Hamburg. In Hamburg finden jährlich Workshops für Nachwuchs-Musiker statt. Birgit Reuther hat den Sänger und Produzenten begleitet.

Was macht einen guten Popsong aus? Und wie schreibt ein Künstler einen Liedtext, der berührt, der Wut, Trauer oder Freude kanalisiert?

„Ein guter Popsong ist wie eine Boy-Band, da ist für jeden etwas dabei. Aber vergesst die Ecken und Kanten nicht“, sagt Clueso und lacht. Der 37-Jährige muss es wissen. Sieben Alben hat der Sänger, Instrumentalist und Songschreiber bereits veröffentlicht. Das jüngste, „Neuanfang“, stieg ebenso auf Platz eins der Charts wie die Vorgänger-Platte „Stadtrandlichter“. Doch um Erfolgsbilanzen geht es nicht an diesem verregneten Hamburger Januartag, sondern um die Kunst. Darum, das Innere nach außen zu bringen und die Worte in die Musik.

Tricks und Kniffe aus erster Hand

Dicht umringt von 20 Zuhörern sitzt Clueso – leicht verschlafenes Gesicht, sehr wacher Blick – in einem hellen holzvertäfelten Studio. Klavier, Keyboards, Boxen und eine Gitarre an der Wand laden die Atmosphäre allein optisch mit Sound auf. Doch der Fokus liegt auf dem, was Clueso erzählt. Es sind Stunden voller Tipps, Motivation, Erfahrungen und Zuhören. Das Musikerkollektiv 106Hz, das seit 2013 in einem Studiokomplex an der Heinrich-Hertz-Straße beheimatet ist, hat zu diesem Workshop-Tag geladen.

Die Teilnehmer sind allesamt selbst Songschreiber, darunter auch das ­Hamburger Folk-Pop-Duo Liza&Kay, die sich Tricks und Kniffe aus erster Hand versprechen. Von einem, der es geschafft hat. Und der, wie sich schnell zeigt, dennoch ein Suchender geblieben ist: „Welche Haltung habe ich in einem Song?“ Wer etwa von Trennung singe, könne dies mit Hass, Schmerz oder Ohnmacht tun und so ganz unterschiedliche Stimmungen erzeugen, erläutert Clueso. Ganz ruhig redet er und schaut die Einzelnen in der Runde sehr offen an. Eine vertrauensvolle Stimmung.

Schreiben, schreiben, schreiben

Wie er denn den Sprung vom Hobbymusiker zum Profi geschafft habe, möchte ein junger Typ mit Bart und schwarzen Locken wissen. Clueso umreißt pointiert Stationen seiner Laufbahn. Abgebrochene Friseurlehre in Erfurt, WG-Leben in Köln, Studio-Sessions. Er erzählt von glücklichen Zu- ­fällen – als etwa sein Demo-Tape im Tourbus der Fantastischen Vier landete, deren Label Four Music ihn später unter Vertrag nahm. Vor allem aber: Schreiben, Schreiben, Schreiben. „Hunderte Songs sind damals entstanden, viel auch für den Papierkorb.“ Ein stetes Loslegen, Kommenlassen, Üben und Weitermachen.

Doch spätestens, wenn Clueso im Workshop einen Songtext improvisiert, zeigt sich das Talent des Impulsiven. Während zwei Jungs Gitarre spielen, schickt Clueso spontan seine Lyrik durch den Raum. Und sofort ist da eine Geschichte – von einem, der durch die Straßen stromert. „Die Stadt sieht aus wie ’ne Schatztruhe/randgefüllt mit Gold“, singt Clueso mit lässigem Tim­bre. Das mache er gern – eine einzige Zeile aus dem Kopf holen und dann damit weiterspinnen. Fließen lassen, Bruchstücke produzieren. Es muss nicht immer sofort alles fertig sein. Die Teilnehmer lauschen ernst, lachen aber auch viel, machen sich Notizen und wollen stets noch mehr Wissen herausholen aus Cluesos Pops-Schatztruhe.

Clueso und Max Mutzke

Ein unterhaltsamer Lehrer ist er, wenn er anhand von „Star Wars“ das Prinzip der Heldenreise mit all ihren Archetypen erklärt, das sich ebenfalls auf die wenigen Minuten eines Pop-songs anwenden lasse. Ganz konkret – und aufregend – gerät der Austausch wiederum, wenn die Teilnehmer Nummern vorspielen, an denen sie aktuell arbeiten. Clueso nickt dann im Takt, schaut Richtung Decke, vertieft sich. Und im Anschluss lobt er, kritisiert sanft, fordert zum Beispiel mehr Details in dieser Miniatur namens Popsong. Ein Kunststück.

„Jeder Popsong ist so gut wie seine schlechteste Zeile.“ Clueso ist als Dozent einer, der locker knackige Merksprüche auswerfen kann, um sie dann – ohne Zeigefinger und Besserwisserei – komplex zu unterfüttern. „Seid nicht zu perfekt, vor allem beim Live-Auftritt. Das Publikum darf ruhig etwas mitzittern mit euch.“ Ein Realist, der Mut macht.

Genau dieses gelöste und zugleich hoch konzentrierte, intime Ambiente möchte das Kollektiv 106Hz mit seinen Workshops bieten. Bereits zum zweiten Mal haben Gründer Julius Trautvetter und seine elf Musikerkollegen zu ihrem Projekt „Clinics“ geladen, bei dem außer Clueso geballt an zehn Tagen weitere Gesangsstars wie Max Mutzke und Wallis Bird, aber auch In­strumentalisten und Produzenten ihr Know-how weitergeben. 92 Euro kostet ein Tag. Trautvetter sieht das Angebot als Ergänzung zu langfristigeren Studiengängen, etwa dem Hamburger Popkurs, bei dem er selbst als Pianist lehrt. „Die Teilnehmer merken, dass der Star, der da vor ihnen sitzt, kein Übermensch ist, sondern ebenfalls zweifelt“, sagt Trautvetter.

Neulich mit Udo Lindenberg

Eine große Offenheit ist auch zu spüren, wenn Clueso von Brüchen in seiner Laufbahn erzählt. Wie er sich nach 15 Jahren von seiner Band und nach 20 Jahren von seinem Manager trennte, da er den Druck und das Eingefahrene verlassen wollte. Ein Gefühl, das sein Songschreiben und Musikmachen hemmte.

„Da habe ich auch mit Udo neulich drüber geredet, wie man da dann sitzt bis morgens um sechs mit 1000 Litern Kaffee im Bauch.“ Der Punkt, an dem alles kommen soll und nichts will. Grenz­erfahrungen, damit kennt sich besagter Udo aus. Nachname Lindenberg. Mit Hamburgs Panikrocker sang Clueso dessen Überhit „Cello“. „Seitdem hängen wir viel zusammen“, sagt Clueso, der übrigens kein ganz schlechter Udo-Imitator ist. Genauso, wie er im 106Hz-Studio auch einen anderen Großen liebevoll imitiert, Herbert Grönemeyer, mit dem er auf Tour war. Aus diesen Begegnungen resultiert eine Clueso-Weisheit: Beim Singen und Texten ruhig einmal die Klangfarbe eines Idols annehmen, zur Inspiration, aber dann tunlichst wieder einen persön­lichen Weg einschlagen.

Für Liza&Kay, die 2017 ihr zweites Album „Mit der Aussicht Einsicht“ veröffentlicht haben, hat sich der Tag definitiv gelohnt. „Der Workshop war unglaublich inspirierend“, sagt Liza und strahlt. „Es war ein Treffen auf Augenhöhe.“

Und nun gilt es, sie weiter zu füllen, die Schatztruhe mit den glänzenden Popsongs.