Hamburg. Keine andere deutsche Stadt hat so viele erfolgreiche Musiker hervorgebracht. Lesen Sie unsere Auswahl – und stimmen selbst ab.

Auf einem Sampler mit Songs aus Hamburg könnte Fettes Brot auf James Last folgen und Nena auf Freddy Quinn. Man könnte aber auch einen Mix ganz ohne die Genannten machen und stattdessen Tocotronic, Ina Müller, Samy Deluxe und Scooter nehmen. Vielleicht sollte jemand mal ein Pop-Quartett daraus machen. Fünf Nummer-eins-Alben, sticht. Bester Krautrock-Bandname. Platte mit dem meisten „Remmidemmi“. Die beste „Hamburger Schule“, Diskursrock und so, Blumfeld: sticht!

Es waren unbestreitbar die 90er-Jahre, in denen Hamburg zur Popmetropole der Nation aufstieg. Die Musikhörer des Landes wurden mit der nordischen Zange gepackt: Auf der einen Seite der legendäre Verbund um Blumfeld und Tocotronic, die „Hamburger Schule“, in der smarte und anspruchsvolle Texte von jungen Männern in Trainingsanzügen gesungen wurden, die sich dabei an ihren Gitarren festhielten.

Popgeschichte Hamburgs begann früh

Auf der anderen Seite die Hip-Hop-Heroen: Fettes Brot, Absolute Beginner, Dynamite Deluxe, Fünf Sterne Deluxe, Deichkind. In Hamburg war die Szene, waren Studios, Labels, Clubs, Konzerte – und das schon länger, wie es sich für eine Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern gehört, die etwas auf Popkultur gibt. Aber das Hamburg-Etikett, das auf die Gesamt-Marke einzahlt, das wurde so erst in den Nachwende-Jahren entdeckt.

Dabei beginnt die Popgeschichte Hamburgs viel früher. Dass Hamburg in der populären Musik in vorderer Front eine Rolle gespielt hat, weiß, so ist jedenfalls zu hoffen, jedes Kind, dessen Eltern Wert auf Allgemeinwissen legen. Die Beatles spielten sich 1960, 1961 und 1962 auf St. Pauli für ihre Weltkarriere warm und bekamen außerdem ihre Pilzfrisur verpasst. Eine „Hamburger Band“ waren die Beatles aber freilich nicht, auch nicht die Liverbirds, die erste wichtige Girl-Rockband.

Viele Zugezogene im Popmekka Hamburg

Für die auf diesen Seiten abgebildete Hamburg-Hitparade gilt: Zur Popmusik, Abteilung Hamburg, zählt, wer sein Werk ganz oder zu einem Teil hier geschaffen hat und fest mit dem Ort der Entstehung verbunden ist. Marius Müller-Westernhagen, der eine Zeit lang der größte deutsche Rockstar war, lebt seit längerem in Berlin (heißt nicht nur für ihn fünf Plätze Abzug); den weitaus längsten Teil seines Berufslebens hat er freilich in Hamburg verbracht. Alle bahnbrechenden Albumveröffentlichungen Westernhagens stammen aus seiner Hamburger Zeit. Er ist einer der vielen Zugezogenen ins Popmekka Hamburg, das auch durch den gigantischen Berlin-Hype (jaja, sicher: Berlin ist schon auch ganz toll, was Pop angeht!) nie an seiner Anziehungskraft eingebüßt hat.

Womit wir bei dem anderen Elder Statesmen des „Deutschrock“ wären; ein Begriff übrigens, bei dem sich die Nackenhaare jedes aufrechten Hamburger Indiepoppers – und von denen gibt es viele – aufstellen. Der andere Gigant aus Hamburg also, der trotz mancher Flirts immer noch an der Alster lebt: Udo Lindenberg. In den 70er-Jahren wohnten Westernhagen und Lindenberg gemeinsam mit Otto Waalkes und Gottfried Böttger in einer Künstler-WG in Winterhude, der berühmten „Villa Kunterbunt“.

Viele Spielarten der Popmusik

Eine von vielen Anekdoten der Hamburger Musikgeschichte wie die Star-Club-Ära, der Jazz bzw. „Jatz“, die Techno-Epoche der 90er, die „Hamburg ‘75“-Szene (Lonzo, Willem, Rentnerband, Rudolf Rock, Leinemann) oder die Hip-Hop-Rudelbildungen wie Mongo Clikke, Rattos Locos und 187 Strassenbande, die auf Alben bezogen hier aber schwer abzubilden sind.

Anekdoten, Legenden, zu denen im übrigen viele Spielarten der Popmusik gehören. Freddy Quinn, zugezogen aus Österreich, mit seinen Seemannsliedern und der gebürtige Bremer James Last mit seinen Easy-Listening-Kompositionen sind deshalb auch in den Top 50 vertreten. Weil in beinahe sechs Jahrzehnten eine Menge an wegweisenden, kommerziell erfolgreichen und tollen Albumveröffentlichungen zusammengekommen sind, war für diese Auflistung eine weitere Regel notwendig: pro Interpret nur ein definitives Album. Was in keinem Falle heißt, dass Künstler wie Blumfeld, Lindenberg und Tocotronic nur ein wichtiges Werk herausgebracht haben, ganz im Gegenteil.

Liste soll vor allem eine Anregung sein

Und auch sonst war bei der Zusammenstellung nach wilder Debatte manches Opfer zu bringen – die „lobenswerten Erwähnungen“ finden Sie hier. Und da sind fantastische Platten dabei, auch wenn manche Künstler seinerzeit in Norderstedt (Mike Krüger) oder Seevetal-Maschen (Truck Stop) lebten.

Ist das eine in Stein gemeißelte Liste? Ganz sicher nicht. Es gibt keine qualitativen Abstufungen und auch keine Geschmacksgrenzen zwischen Rock, Pop, Hip-Hop, Metal oder Schlager. Denn diese Liste soll vor allem eine Anregung sein, mal wieder daheim oder im Plattenladen ins Regal zu greifen oder auf Laptop und Smartphone eine Playlist aus lauter wunderbaren Hamburger Klassikern zusammenzuwürfeln. Hamburg ist die Rockcity, Hamburg ist Poplaboratorium – und Hamburg ist die Stadt der guten Musik. Das sind die Alben der Abendblatt-Redaktion:

Platz 50 – Revolverheld: In Farbe

Johannes Strate, der aus Worpswede nach Hamburg eingewanderte „Kurt Cobain Bremens“, wie ihn Jan Böhmermann einmal nannte, hat einen noch erstklassigen Fußballgeschmack und eine herbe Stimme, mit der er schöne und zarte Balladen und Midtempostücke singen kann und fiese Rocker mit knallenden Gitarren noch dazu. „Mein Leben ist super/Ich hab einen Lauf“ singt er auf „In Farbe“, dem dritten Album seiner Band Revolverheld: Als Hedonismus-Hymne und Pamphlet der Selbstzufriedenheit ganz brauchbar. Was Revolverheld der Welt vor allem anderen gaben, war „Halt dich an mir fest“; Kuschelrock auf Hamburgisch im Duett-Gesang von Strate und Marta Jandová. Sagt da jemand Kitsch? Ach, Quatsch. Mitsingen, Baby.

Platz 49 – Tomte: Buchstaben über der Stadt

Gern wird die Band Tomte mit den Britpoppern Oasis verglichen. Warum auch nicht? Beide machen Songs, zu denen man sofort Bier trinken, mitsingen, Menschen überschwänglich umarmen möchte. Zudem lieben sowohl Tomtes Thees Uhlmann als auch Oasis’ Liam Gallagher den gedehnt gesungenen Vokal. Und nirgends klingen diese sehnsuchtsvoller als auf „Buchstaben über der Stadt“, Tomtes Hit-Album von 2006. Indie-Rock für Herz und Magengrube, der klug komprimiert wie unfassbar schön, aber auch ungewiss alles ist. Mit Zeilen, die sich ins Herz tätowieren lassen. „Es ist ein gutes Gefühl / Zu sagen, wir kennen uns noch in zehn Jahren“ ist so ein Vers. Nicht zu vergessen die Ode an die „Stadt mit Loch“, an New York. Pathos – sofort!

Platz 48 – Ina Müller: 48

An Ina Müller, der Einmaligen, ist nichts verkehrt, sie steht am Schellfischposten seit Jahren ihre Frau, „Inas Nacht“ bekam quasi jeden Preis, den eine Fernsehsendung bekommen kann. Außerdem verkauft Frau Müller Waggonladungen von Tonträgern und wird für ihre lebensnahen Songtexte geschätzt: Kein weibliches Wesen auf diesem Planeten, das sich in ihr nicht hier und da wiederfinden kann. Ina Müller ist die ganz Normale unter den deutschen Sängerinnen. Keine Allüren, keine Diva-Anfälle (zumindest keine, von denen man wüsste) und das wertvolle Wissen, was Weibsbilder wollen: „Aber nichts macht sie so an/Weder Robin, noch Til Schweiger, noch Orlando/Sie schreit nur noch bei Zalando“ heißt es auf „48“ (2013).

Platz 47 – Johannes Oerding: Alles brennt

Die dramatische Geste beherrscht Johannes Oerding, und seine Texte kennen keine komplizierten Kunstgriffe: „Zwischen schwarzen Wolken sehe ich ein kleines bisschen Blau“, singt der ehrliche Westfale, der auf St. Pauli lebt, im Titelsong seines erfolgreichsten Albums aus dem Jahr 2015, und da sind wir dann alle dabei: die Empfindsamen, die Hutträger, die Tanzfeen, die Macker und die Verständnisvollen, die Mitsinger. Oerding ist ein begnadeter Songwriter, der seine Stücke gefällig arrangiert. Er gehört zu der gar nicht so großen Zahl von Künstlern, die die Popformel gefunden haben und dabei nicht beliebig werden. Pop ist auch der Versuch, alle anzusprechen, und Oerding meistert ihn immer wieder. Aber sapperlot, ist da Pathos im Spiel? Und wenn schon ...

Platz 46 – Mantar: Death By Burning

Nehmen wir mal alle Energie, allen Zorn, alle Hingabe, die in die 49 anderen Alben in dieser Liste geflossen sind – sie würden nicht mal für einen Song auf Mantars „Death By Burning“ (2014) reichen. Die zehn Lieder dieser deutsch-türkischen, von Hamburg und Bremen aus alles niederwalzenden Metal-Missetäter sind die zehn biblischen Plagen, die sieben Todsünden plus drei der vier Apokalyptischen Reiter. Wo „Death By Burning“ erschallt, verdorren Pflanzen, zerfallen Häuser zu Staub und winseln Seelen um Erbarmen. Nach zwei Alben und einer EP sorgt Mantar auch international nicht nur in der Metalszene für Aufsehen. Auch, weil diese Band nur aus zwei Musikern, Hanno Klänhardt und Erinç Sakarya, besteht. Der pure Wahnsinn.

Platz 45 – Selig: Selig

Die Band Selig war Mitte der 90er-Jahre allein schon deswegen eine heldenhafte Unternehmung, weil sie anders als die abgeklärten, irre smarten und todernsten Streber aus der Hamburger Eliten-Schule einen schmalzigen Liebeskummersong („Ohne Dich“) im Programm hatte. Mit Gitarrensolo! Selig, das war die Kreuzung aus Seattle und Hamburg, und das war das Rockgewissen der Hansestadt. Das erste Kapitel endete plötzlich, und ebenso plötzlich waren Selig zehn Jahre wieder da und gegen alle Wahrscheinlichkeit sogar erfolgreicher als je zuvor. Aber „Selig“, das Debütalbum aus dem Jahr 1994, blieb unerreicht: „Es ist so oh-oh-oh-ohne Dich/Ich find es widerlich, ich will das nicht“. Einmal noch Teenager sein, einmal noch.

Platz 44 – Nena: Willst du mit mir geh’n

„99 Luftballons“, klar. Einer der wenigen Globus-umspannenden Momente deutschen Popschaffens. Die NDW-Nena war die goldigste Hervorbringung aus der Poprepublik Deutschland, und weil Karrieren nicht aufhören, nur weil der ganz große Ruhm weg ist, nahm die Sängerin weiter Alben auf, eines nach dem anderen. Dann, im neuen Jahrtausend, schenkte ihr das Schicksal ein neues Allzeit-Hoch: Sie lebte längst in Hamburg, als sie zunächst ein Album mit Neu-Interpretationen ihrer alten Hits herausbrachte. 2005 dann ein Album mit frischen Liedern; „Willst du mit mir geh’n“ also, das Album einer erwachsenen Frau, die am Horizont vielleicht immer noch was Rundes flattern sah, den süßen Vogel Jugend wohl.

Platz 43 – Blümchen: Herzfrequenz

Auf „Herzfrequenz“ singt Jasmin Wagner alias Blümchen zu Musik, die jeden Flipperautomaten glücklich macht. Ihre Stimme jagt durch elektronische Filter, über springende Beats und hochfrequente Melodien. Euro Dance oder Happy Hardcore hieß dieser Mix in den 90ern, der großen Crossover-Dekade. „Herzfrequenz“ erschien 1996, als Wagner gerade mal 16 Jahre alt war, und hielt sich 46 Wochen in den Charts. Von vielen belächelt, bargen ihre Songs unverschämtes Ohrwurmpotenzial. Diese Güte erkannten auch Mitglieder der so genannten Hamburger Schule und veröffentlichten „Für Jasmin“, ein Album mit Remixen. Unter anderem mit diesen Versen: „Wie ein Boom-Boom-Boom-Boom-Boomerang / komm ich immer wieder bei dir an.“

Platz 42 – Bosse: Kraniche

Bosse – Seelenmensch, Energiespender, Live-Tier. Kein Konzert, bei dem die Klamotten trocken bleiben. Mit seinem fünften Album „Kraniche“ hat der Musiker, den viele kumpelig Aki nennen, im Jahr 2013 ein erwachsenes, persönliches Werk vorgelegt. Er singt über die Sorgen, die sich einschleichen, mit dem Alter, als Vater („Alter Affe Angst“). Er guckt aufs komplexe Leben – darauf, dass jeder mehrere Gesichter hat („Sophie“). Die Nummer, die besonders berührt: der wunderbare Erinnerungssong „Die schönste Zeit“ – mit erstem Kuss, Erdbeerbowle und Spucke, mit Kurt Cobain und Neil Young. Musikalisch reichen die Einflüsse auf „Kraniche“ vom Orient bis nach Südamerika, von der Langhalslaute Saz bis zu Mariachi-Bläsern. Glückselig machender Pop.

Platz 41 – Roger Cicero: Männersachen

Seit Roger Cicero im März 2016 starb, kommt Hamburg schwer in Schwung. Denn der Swing, der mit dem Wahlhamburger Crooner aus Berlin kam, ist mit ihm gegangen. Bekannt wurde er natürlich durch das Album „Männersachen“ (2006), das mit seinen nicht immer ironischen Macho-Schwoofern „Kein Mann für eine Frau“, „Fachmann in Sachen Anna“, „Du willst es doch auch“ oder „Frauen regier’n die Welt“ einen Nerv traf. Dabei genoss Cicero ebenfalls großes Renommee als Jazzmusiker und Sinatra-Interpret – und er verließ auf seinem letzten Popalbum „Was immer auch kommt“ (2014) die Pose und erzählte viel Persönliches. Ach Roger. Komm, wir hören ein Lied von der Platte „Beziehungsweise“ (2007): „Ich hätt’ so gern noch Tschüss gesagt“.

Platz 40 – Anna Depenbusch: Die Mathematik der Anna ...

Dass Anna Depenbusch dieses Jahr als erste Popkünstlerin überhaupt ein Stipendium der ehrwürdigen Deutschen Akademie in der Villa Massimo in Rom bekam, unterstreicht die Kunstfertigkeit der Sängerin und Pianistin. Ihr Debüt „Die Mathematik der Anna Depenbusch“ begeisterte 2011 sogar die Feuilletonisten, und das vielleicht auch, weil das Wort „Gelegenheitsfick“ noch nie so schön von Musik umrahmt wurde wie im Eröffnungslied „Tim liebt Tina“. Da weiß man gleich, woran man bei Depenbusch ist: Beziehungskisten, frisch geöffnet, gerade geschlossen mit Pop, Jazz und Chanson. „Die Liebe kommt, die Liebe geht, sie brennt und bricht, die Liebe hält was sie verspricht“. Und wer bei „Kommando Untergang“ nicht heult, hat kein Herz.

Platz 39 – Die Doraus & die Marinas: Blumen und Narzissen

„Er kam mit in die Stadt, die Frauen waren platt: ein Traum von einem Mann“, nein, das war er noch nicht, der Andreas Dorau im Jahr 1981. Schließlich war er erst 16 Jahre jung, als er mit Klassenkameraden bei der Projektwoche „Wie entsteht ein Pop-Titel“ an der Jenfelder Otto-Hahn-Gesamtschule das Lied „Fred vom Jupiter“ zusammenklimperte und -krähte. Ein geradezu bösartig lustiger Ohrwurm, der zum Indie-Hit der anschwellenden Neuen Deutschen Welle wurde. Der fröhliche und unbekümmerte Low-Fidelity-Charme, die Sound-Paarung von Glücksspielautomat und Pausenhof-Gesang bestimmte 1981 auch das erste Album „Blumen und Narzissen“ – und seinen Ruf als schräger Pop-Schlaufuchs hat Dorau sich bis heute erhalten.

Platz 38 – Gisbert zu Knyphausen: Hurra! Hurra! So nicht.

Bei Erscheinen dieses Albums im Jahr 2010 war der wunderbare Liederschreiber Gisbert zu Knyphausen, der so melancholisch Verse wie „Fick dich ins Knie, Melancholie/du kriegst mich nie klein“ singt, schon nach Berlin verzogen. Aber „Hurra! Hurra! So nicht.“ ist unverkennbar ein noch von Hamburg inspiriertes poetisches Großwerk mit Zeilen wie diesen: „Unten am Fluss/Mit den Füßen im Sand und den Blick/Auf die gewaltigen Tiere/Mit metallenen Krallen/Mit Neonlicht-Augen/Und die Container, die fallen“ – Gisbert zu Knyphausen ist fraglos der beste deutschsprachige Songwriter seiner Generation. Und tollerweise haben das auch einige bemerkt, denn es ist ja nicht schlecht, wenn vollendete Musiker nicht nur für sich selbst klampfen.

Platz 37 – Trümmer: Interzone

Die neuen Coolen in der Schule: Auf ihrem zweiten Album lädt die Hamburger Band Trümmer in die „Interzone“ (2016). Ein Zwischenreich, in dem das Funktionieren, das Angepasste ausgehebelt scheint. Die Revolution findet in diesem Refugium nicht mit Mackergestus statt, sondern mit sanfter Verführung. Mit Rock, der aufgeladen ist mit Soul, Funk und Blues. Der von Euphorie und Entgrenzung handelt. Als Kontrastprogramm zu einer auf Effizienz getrimmten Gesellschaft. Doch das Kunstschaffen, das stete Entflammen der Ekstase kostet auch, ist anstrengend, reibt auf. Davon erzählen Sänger und Gitarrist Paul Pötsch, Bassist Tammo Kasper, Drummer Maximilian Fenski und Gitarrist Helge Hasselberg. Spannend, was da noch kommen mag.

Platz 36 – Annett Louisan: Bohème

Das Bemerkenswerte am ersten Album von Annett Louisan ist weniger der große Erfolg von „Bohème“ 2004, sondern wie besonders die Single „Das Spiel“ das Image der Sängerin noch viele Jahre lang prägen sollte: ein kleines, naives Lolita-Blondchen mit piepshoher Flüsterstimme und gutem Ruf in schlechten Kreisen. Dabei ist die gebürtige Havelbergerin eine stilistisch und stimmlich enorm vielseitige Chanteuse und charismatische Entertainerin, die mittlerweile sechs Top-3-Alben in Folge verbuchen konnte. Eine mehr als beachtliche Leistung im schnelllebigen Musikgeschäft. „Das alles wär’ nie passiert ohne Prosecco“, sang Annett Louisan 2007. Das mag schon sein, aber Talent, Mut und Beharrlichkeit haben sicher auch eine Rolle gespielt.

Platz 35 – Tonbandgerät: Wenn das Feuerwerk landet

„Aus Träumen wurden Dinge, die wir einfach machten / obwohl alle sagten, dass wir es niemals schaffen.“ Diese Aussage aus dem Song „Sekundenstill“ sagt viel aus über Tonbandgerät. Sein luftig-leichter Pop führte das junge Quartett nach New York und in die Elbphilharmonie. Doch Sophia, Ole, Isa und Jakob kommen so grundsympathisch daher, da sie weiter „zum Kiosk laufen, Bier kaufen und nachts durch die Straßen gehen“, wie es in „Sekundenstill“ heißt. Zu finden ist die Nummer auf „Wenn das Feuerwerk landet“, dem zweiten Album (2015). Sophia schreibt die Lieder, die Ole singt. Allein wegen dieser feinen Rollenaufteilung gibt es beide Daumen hoch. Nachdenklichkeit ohne Zeigefinger, Naivität ohne Fremdscham. Gefühlskino, wie es sein soll.

Platz 34 – Cpt. Kirk &.: Reformhölle

Immerwährender Bezugspunkt für all jene Musiker, die gern quer denken in Sachen Sound und Lyrik: Cpt. Kirk &. mit dem Album „Reformhölle“ aus dem Jahr 1992. Klangmuster von Jazz, Rock und Hip-Hop verquicken sich zu spannungsgeladenen Songs. In Nummern wie „Geldunter“ oder „Ärger Rund“ legt Sänger und Gitarrist Tobias Levin nicht weniger dar als die Existenz zwischen Straße und Staat, Liebe und Kapitalismus, zwischen Tarnung und Täuschung, Ich und Irrsinn. Nervös proklamierend, mitunter aber auch mit verzweifelter Zärtlichkeit. Heute agiert Levin als angesehener Produzent der Indie-Szene und wirkte so unter anderem mit an Platten von Tocotronic, Gisbert zu Knyphausen, Rocko Schamoni, Kante und Jens Friebe.

Platz 33 – Bernd Begemann & Die Antwort: 1987

Bernd Begemann! Immer: Bernd Begemann! Wenn es einen wahren Arbeiter im Steinbruch des Hamburg-Pop gibt, dann ist das der Kulturmensch, Cineast, Conférencier und Liedschreiber Bernd Begemann. 30 Jahre ist es schon her, dass sein Debütalbum erschien, auf dem er von den großen Schiffen sang, die am Hafen schlafen. Beat-Musik mit Texten, die man auch eigenwillig nennen kann: Begemann ist für die gesamte Dauer seiner kleinen, feinen Karriere der bestgelaunte Hamburger Sänger gewesen. Und das, obwohl er aus Westfalen stammt, der Gegend also, aus der der Hansestadt so viele Popkünstler zugelaufen sind. „Er hatte großen Einfluss auf die Hamburger Schule“, schreibt Wikipedia. Ja, der Bernd. Ein Mann mit Impact.

Platz 32 – Achim Reichel: Melancholie & Sturmflut

Achim Reichel ist so wandelbar wie das Meer und hat in den 50 Jahren seiner Karriere immer wieder Ungeahntes angestoßen. Er gründete 1960 die Beat-Pioniere The Rattles, rief 1968 mit Les Humphries und Frank Dostal Wonderland ins kurze Leben, probierte in den 70ern mit A. R. & Machines Avantgarde-Krautrock, verfolkte mit „Regenballade“ (1978) und „Wilder Wassermann“ (2002) Goethe, Heine und Fontane und sang 1976 auf „Dat Shanty Alb’m“ op Platt. Sein erfolgreichstes Album war allerdings bislang „Melancholie und Sturmflut“ 1991, schließlich war auf dieser Platte auch jener Song, der noch in Jahrzehnten mit Achim Reichel verbunden werden wird: „Aloha heja he“. Wer dieses Lied hört, der hat das Paradies gesehen.

Platz 31 – Frumpy: All Will Be Changed

Normalerweise hängen deutsche Bands gern dem Zeitgeist hinterher, aber Frumpy erschien 1969 punktgenau auf der Bildfläche. Die von den City Preachers abgewanderten Inga Rumpf, Carsten Bohn, Jean-Jacques Kravetz und Karl-Heinz Schott veröffentlichten mit „All Will Be Changed“ 1970 ein Debüt, das man problemlos neben den Zeitgenossen Deep Purple, Yes oder Jethro Tull in die Progressive-Rock-Sammlung reihen kann. Und besonders Inga Rumpf, die direkt vor diesem Album noch den Schlager „Schade um die Tränen“ trällerte, stieg mit Frumpy und der 1972 gegründeten Nachfolgeband Atlantis zu einer Rock- und Soul-Persönlichkeit auf, die die Musikszene noch jahrzehntelang prägen und inspirieren sollte.

Platz 30 – Samy Deluxe: Samy Deluxe

Samy Deluxe hatte sich 2001, als sein Solodebüt „Samy Deluxe“ erschien, schon aus den – kicher – Slums von Eppendorf in die erste Hip-Hop-Liga gerappt. Als Kollabo-Partner der Beginner und als Drittel des Trios Dynamite Deluxe. Mit seinem von den Gastrappern Afrob, Nico Suave, Dendemann und Illo 77 begleiteten ersten Alleingang etablierte sich Samy aber endgültig als „Wickeda MC“, als absoluter Boss-Rapper mit Hochgeschwindigkeitsreimen, die fast zu schnell waren für tiefgründige und kritische Texte wie in „Weck mich auf“, „Hab gehört ...“ oder dem aus heutiger Sicht schon prophetischen „S.O.S.“. Wichtige Botschaften, die sich nicht nur auf „Hamburg City is im Haus, Digger check das ab“ beschränken.

Platz 29 – Faust: So Far

Na, Gott sei es gedankt – der ewige teutonische Beitrag zum Popweltkulturerbe, genannt „Krautrock“, ist auch in Hamburg gekocht worden. Der Journalist Uwe Nettelbeck war es, der 1970 die Band zusammenstellte und aufs Dorf schickte, damit sie ihre experimentellen und wahnsinnigen Stücke einübte. Es erschienen in schneller Abfolge Alben mit komplexen Songs und komplett aufgebrochenen Songstrukturen, die die eingängigen Mainstreamentwürfe aus England und Amerika konsequent unterliefen. „So Far“ kam 1972 heraus und ist weiterhin ein Erkennungsmerkmal für die derbsten Musik-Hipster aus Hamburg, London, New York City. Aber nicht gleich Acid nehmen, Leude. Faust haut auch nüchtern immer voll rein.

Platz 28 – Slime: Slime I

Hafenstraße, Anti-AKW-Bewegung, Rote Armee Fraktion – und mittendrin ein paar Jugendliche, die frustriert waren und eine Band gründeten, die wie keine andere deutsche Punktruppe provozierte und polarisierte: Slime, 1979 in Hamburg gegründet, veröffentlichte 1981 mit „Slime I“ ein Debüt, das heute vor allem ein historisches Zeitdokument ist – und abgesehen von der Billigbier-Hymne „Karlsquell“ eine einzige Parole: Die Lieder „A.C.A.B.“, „Bullenschweine“ und „Deutschland“ lieferten in jeder Zeile Zitatstoff für Transparente, Graffiti und Demo-Sprechchöre. Die Langlebigkeit der Brisanz dieses Albums zeigt sich an der Tatsache, dass es im Jahr 2011 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurde.

Platz 27 – Kettcar: Du und wieviel von deinen Freunden

„An den Landungsbrücken raus/Dieses Bild verdient Applaus“ – das war die Losung im Jahr 2002, als in Hamburg ein paar nicht mehr ganz junge Männer anlandeten und ihre Form von Deutschrock vorexerzierten. Marcus Wiebusch erzählte von Typen, die 30 wurden, er weinte im Taxi oder ging den ganzen Weg; und das alles fand natürlich in Hamburg statt, der Stadt, die Kettcar romantisch besangen. Befindlichkeitslyrik? Pathos? Und wenn schon: Das Publikum bekam, was es wollte. Und irgendjemand muss ja das Coldplay des kleinen Mannes sein. Gut, dass Wiebusch, Bustorff und Kollegen diesen Job immer noch übernehmen. Und noch besser, dass sie als Popmusiker mit Haltung unsere Gesellschaft beschreiben. Lasst die andern cool sein.

Platz 26 – The Les Humphries Singers: Mama Loo

Nach seiner kurzen Episode als Keyboarder in Achim Reichels Band Wonderland gründete der in Hamburg lebende Londoner John Leslie Humphreys 1969 die Les Humphries Singers. Ähnlich wie wenige Jahre zuvor die City Preachers führte Humphries ein loses Kollektiv von Sängern und Musikern an, die Traditional, Spiritual, Gospel und Hippie-Folk mit fröhlichem Pop verbanden. Mit Unterstützung zahlreicher Auftritte in Film, Funk und Fernsehen gingen diverse Alben bis 1976 in die Top Ten, „Mama Loo“ schaffte es 1973 sogar an die Spitze. Ein junger Künstler, der bei den Singers durch die knüppelharte Schule des ehemaligen Royal Marine Humphries ging, machte nach der Auflösung der Truppe weiter Karriere: Jürgen Drews.

Platz 25 – Kante: Zombi

Bevor die von Ex-Blumfeld-Bassist Peter Thiessen angeführte Band Kante ein laaaaanges Album-Sabbatical nahm beziehungsweise sich auf Theater-Soundtracks (Potztausend: Handke! Brecht!) verlegte, veröffentlichte sie vier blitzsaubere Alben mit viel Indierock und ein wenig Jazz, der sich besonders in den Instrumentalstücken verbreitete. „Zombi“ erschien 2004 und ist die ausgefeilteste Arbeit der Gruppe, deren oft treibende Songstrukturen und abstrakte Texte eine helle Freude sind. „Es ist als trügen wir/ein Licht in uns/das einer anderen Welt/entsprungen ist/Wir sehen unmöglich aus/wir sind der Zeit voraus“: Wer heroisch durch die Straßen der großen Stadt marschiert, der darf sich immer wieder als jemand von einem anderen Planeten fühlen.

Platz 24 – Freddy Quinn: Auf hoher See

Eigentlich ist Freddy Quinn die vielleicht größte Mogelpackung der deutschen Schlager-Historie, denn das Image des singenden Salzbuckels von St. Pauli beruht wohl auf viel Seemannsgarn, was seinerzeit um den Österreicher gesponnen wurde. Sei’s drum, das Fernweh und die Liebe zu maritimer Romantik waren groß, als Freddy nach seinem großen Einstieg mit dem Lied „Heimweh“ (1956) Hit an Hit reihte. Und das zweite, sehr erfolgreiche Freddy-Album „Auf hoher See“ knüpft und knotet 1961 zusammen, was zusammen gehört: „La Paloma“, „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“, „De Hamborger Veermaster“, „Wo die Nordseewellen ...“, „Die Gitarre und das Meer“ – wer diese Platte hört, bekommt sofort heftiges „Heimweh nach St. Pauli“.

Platz 23 – Nils Koppruch: Caruso

Nils Koppruch (1965–2012) war bis zu seinem, natürlich viel zu frühen Tod der amerikanischste unter den jüngeren Hamburger Songwritern. Ein wunderbarer Musiker, der außerdem auch noch bildender Künstler war; der Mann, der die Pedal-Steel-Gitarre liebte und erst mit seiner Band Fink, später mit Gisbert zu Knyphausen als „Kid Kopphausen“ Americana-inspirierte Songs mit poetischen Texten schrieb. Dazwischen war Koppruch Solo-Künstler und sang auf „Caruso“ (2010) von „Kirschen (wenn der Sommer kommt)“ – „Es ist ne sonderbare Welt/Du kannst in goldenen Schuhen durch die Gegend gehen/Und niemand sieht dir zu wenn du hinfällst“. Der große Nils Koppruch ging so weit er konnte, und er hinterließ uns seine unsterblichen Lieder.

Platz 22 – Die City Preachers: Folklore

Das Kreuzüber von Folk, Rock, Gypsy-Jazz, Balkan-Sounds und Klezmer ist seit einigen Jahren (nicht nur) in Hamburg wieder stark angesagt, und die Wurzeln dieses Welt-Pops liegen in den City Preachers. Das von John O’Brien-Docker angeführte lockere Kollektiv war allerdings vom Album „Folklore“ 1965 an bis zur Trennung 1969 nicht nur Deutschlands erste Folk-Rock-Band, sondern auch Kaderschmiede und Durchgangsstation von Künstlern wie Inga Rumpf, Udo Lindenberg, Dagmar Krause, Alexandra, Jean-Jacques Kravetz, Carsten Bohn und vielen weiteren Musikern, die später in Bands wie Frumpy oder Atlantis spielten. Beworben wurde „Folklore“ damals übrigens als „ein überzeugendes No zum allzu lauten Yeah-Yeah-Yeah“. Aha.

Platz 21 – Helloween: Keeper Of The Seven Keys Part II

Akustischer Stahl wird hierzulande natürlich vor allem im Ruhrpott gekocht, aber auch der Norden hat im Heavy Metal mit Gamma Ray, Running Wild, Iron Savior und Helloween einiges zum Bangen – man nennt es auch die Hamburger Metal-Schule. Und das tragende Fundament ist ohne Zweifel Helloweens „Keeper Of The Seven Keys Part II“, das 1988 mit seiner irren Geschwindigkeit, seinen eingängigen und hymnischen Melodien und Krachern wie „I Want Out“ (bis heute Rausschmeißer bei Helloween-Konzerten), „Dr. Stein“ und dem 13-Minuten-Epos „Keeper Of The Seven Keys“ stilbildend für Power- und Speed Metal wurde. Top Ten in Deutschland und vielen anderen Ländern, ist diese Platte auch kommerziell ein Metal-Meilenstein.

Platz 20 – Palais Schaumburg: Palais Schaumburg

Der Pop aus diesen Landen war einmal sehr, sehr groß: Das war, als die Neue Deutsche Welle über die Welt schwappte. Wer nicht Panzer, sondern Lieder schickt, der kann nicht böse sein. Palais Schaumburg waren nicht nur nicht böse, sie waren auch nie langweilig. Dafür existierte die NDW-Band auch nicht lang genug; aber vor allem installierte sie einen Soundentwurf zwischen Funk, Dada, Avantgarde und Rockmusik, der sich von den anderen Bands deutlich unterschied. Auf „Palais Schaumburg“ (1981) ist den Songs jegliche Lieblichkeit ausgetrieben, was eine Erklärung dafür sein mag, dass die Band immer im Underground blieb. Ihr intellektueller Ansatz legte eine Spur für den späteren Diskursrock in der „Hamburger Schule“.

Platz 19 – Jan Delay: Wir Kinder vom Bahnhof Soul

„Ist da mal wieder so ‘ne Phase, wo gar nix läuft außer die Nase“, dann hat Jan Delay das Gegenmittel zu Sofa, Fernseher, Trainingshose: Auf „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“ entfesselt das Beginner-Drittel 2009 mit der Band Disko No. 1 eine dicke Ladung Disko, Funk und Soul für den nächsten „Abschussball“, für den nächsten „Rave Against The Machine“ oder für den nächsten Liebeskummer („Little Miss Anstrengend“). Der Vorgänger „Mercedes Dance“ (2006) war schon prima, der Nachfolger „Hammer & Michel“ (2014) leider eine Klaus-Lage-Hommage, aber diese Platte ist schlicht „Large“. Hier stimmt einfach alles, vom satten Groove bis zum Coverbild, das die Sternbrücke im Clubdreieck von Astra Stube, Waagenbau und Fundbureau zeigt.

Platz 18 – Project Pitchfork: IO

In der Dunkelheit von Partys im Club Kir geboren, gehört Project Pitchfork seit 1989 zu den entscheidenden Schrittmachern der deutschen Düster-Szene. Ein definitives Album zu benennen macht es bei mehr als 20 unglaublich variablen Alben in einem weiten Feld zwischen Underground und Top-Ten-Erfolg und dem Wandel von Electro- und Dark Wave zu Synth-Rock nicht einfach. Aber für viele Fans ist „IO“ von 1994 fast mehr Fetisch als Tonträger, und das Abspielen des kühlen, hämmernden Soundtracks der Post-Apokalypse mehr Messe als Hörgenuss. Lieder wie „Renascence“ oder „Carrion“ haben einen subkulturellen Stellenwert, der bis heute nachwirkt. Und wer sonst hatte schon eine Band wie Rammstein im Vorprogramm?

Platz 17 – Echt: Freischwimmer

„Du trägst keine Liebe in Dir, nicht für mich oder irgendwen“ – wer kurz vor der Jahrtausendwende irgendeine Schöne ganz erfolglos anbetete, der schwelgte trübsinnig und euphorisch zugleich zu dieser Hymne auf den Abschied. „Freischwimmer“, das zweite Album des schnell verglühenden Popsterns Echt, erschien 1999 und war der Höhepunkt in der Karriere der aus Flensburg stammenden Band. Einer Band, die mancher damals – es war der Geist der Epoche – gern „Boyband“ nennen wollte. Der Produzent und Songpoet Michel van Dyke schrieb die wichtigsten Songs, aber ganz gefühlsecht war das Quintett trotzdem immer – seine Herzschmerz-Songs hörte jeder und vor allem jede, zumindest einen Sommer lang.

Platz 16 – James Last: Non Stop Dancing

Der „Happy Sound“ kam Mitte der 60er-Jahre über Deutschland und viele andere Länder. Ein geschmeidiger, das umstandslose seelische Wohlbefinden ansteuernder Big-Band-Sound, der vom Easy-Listening-Gott persönlich in swingende Arrangements gegossen wurden : von James „Hansi“ Last. „Nonstop Dancing“ hieß die Reihe, die seit 1965 erschien und in einem Studio in Rahlstedt eingespielt wurde. Berührungsängste kannte Last, der ein gelehriger Schüler Bert Kaempferts war, nicht. Beatles, Stones, Udo Jürgens – unter dem Taktstock des Meisters wurden Beat und Schlager eins. Last (1929–2015) wurde dank seiner Leichtmusik zu einem der bekanntesten deutschen Musiker überhaupt. Er veröffentlichte insgesamt mehr als 200 Alben.

Platz 15 – Bert Kaempfert: Wonderland By Night

Ohne den Barmbeker Komponisten, Produzenten und Bandleader Bert Kaempfert (1923–1980) wären die Karrieren von den Beatles, Frank Sinatra, Al Martino oder Freddy Quinn vielleicht anders verlaufen. Zumindest müssten wir auf Evergreens wie „Spanish Eyes“ oder „Strangers In The Night“ verzichten. Nicht zu vergessen der Startschuss von Kaempferts Easy-Listening-Hype in Übersee: Die 1959 von Kaempfert aufgenommene, hierzulande völlig unbeachtete Klaus-Günter-Neumann-Komposition „Wunderland bei Nacht“ wurde als „Wonderland By Night“ 1961 der erste Nummer-eins-Hit eines Deutschen in den USA. Und das gleichnamige Album kletterte ebenfalls an die Spitze. Ein früher Höhepunkt der Lounge-Musik.

Platz 14 – Scooter : ... And The Beat Goes On

Würde man den Kopf in eine Kegelsortieranlage im Bowlingcenter stecken, die Wirkung wäre die Gleiche wie beim Hören von Scooters Debütalbum „... And The Beat Goes On“ 1995. Schließlich verbirgt sich hinter der harmlos als Brausepulver verpackten Hülle hastig zuckender Laserpointer-Techno, der einen in Form von Scooter-Frontmann H.P. Baxxter eine Stunde lang anschreit: „Move Your Ass!“, „Faster Harder Scooter“, „Raving In Mexico“, „Rhapsody In E“ – Musik, zu der mehr Pillen geschmissen worden sind als bei der Medikamentenausgabe in der Akutgeriatrie. Und dann ist da auch noch der einsame, absolute Höhepunkt deutscher Diskurspop-Lyrik: „Hyper, hyper! Hyper, hyper! Hyper, hyper!“ – und alle so: yeah!

Platz 13 – Fettes Brot: Außen Top Hits, innen Geschmack

Plötzlich waren sie überall, die Hip-Hop-Formationen: Jede Stadt hatte spätestens Mitte der 90er-Jahre ihre Szene, und Hamburg hatte glücklicherweise Fettes Brot. Kein Gangsterrap-Blödsinn, kein Hip-Hop-Schlager, sondern einfach gute Songs mit feinen Reimen. König Boris, Schiffmeister und Dokter Renz waren nie so gut wie auf „Außen Tophits, innen Geschmack“, das 1996 erschien und die an den Grund unserer Existenz rührende Frage stellte: „Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?“ Selten war Hip-Hop tiefgründiger, selten machte er so viel Spaß wie bei diesen drei Big-Stylern, die es im übrigen auch geschafft haben, als Wort-Akrobaten in Würde das mittlere Alter zu erreichen – und dabei Kindsköpfe zu bleiben.

Platz 12 – Die Sterne: Posen

Wer Mitte der 90er-Jahre, jenem sagenhaften Jahrzehnt der Trainingsanzüge, das die Ironie groß machte, wer 1996 also die Hamburger Band Die Sterne nicht toll fand, der war selbst schuld. „Posen“ ist eines der bleibenden Zeugnisse der sogenannten Hamburger Schule. Die war nicht grundsätzlich diskursiv, sondern schwebte auch mal wie in „Swinging Safari“ über den Dingen, um am Ende aber doch die Frage aller Fragen zu stellen: „Was hat dich bloß so ruiniert?“ Wahrscheinlich einer der zehn besten Songs, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden. Frank Spilker und der Kaktusgarten, das war große Songlyrik. Solche Lieder schreibt man heute leider gar nicht mehr, es ist ein Jammer. Auch der Pop ist ruiniert.

Platz 11 – Digitalism: Idealism

Die Shows von Digitalism sind soundstarke, knallende, zuckende, schweißtreibende Ereignisse. In ihren Electro-Tracks vermischen Jens „Jence“ Moelle und Ysmail „Isi“ Tüfekçi Sphärisches aus dem Gerätepark, aus Synthesizern und Mischpult, mit gesungenen Slogans. Das Ergebnis: Beats, Brüche, Melodien, Explosion. Als flöge die Enterprise durch einen alten C64-Computer. Als 2007 ihr Debüt „Idealism“ erschien, konnten sich Electro-, Rave- und Indierock-Fans flugs einigen, dass Songs wie „Magnets“, „I Want I Want“, „Pogo“ oder „Zdarlight“ auf den Tanzflächen der Großstadt fabelhaft funktionieren. Und das nicht nur hierzulande. Digitalism jetten als DJs um die Welt, setzen New Yorker Clubs musikalisch ebenso in Brand wie Tokioter.

Platz 10 – Die Braut haut ins Auge: Was nehm ich mit?

Was für eine Wucht von einem Album, die da Mitte der 90er-Jahre in Hamburg anlandete: fantastisch quengeliger und zwingend tanzbarer Sixties-Pop kombiniert mit (meist) deutschsprachigen Texten, die so ehrlich, toll und seelentief treffend sind, dass sie bis heute betören und berühren. Mit „Was nehm ich mit?“ (1995) erklärt uns Die Braut haut ins Auge nahezu prophetisch die Welt – ob hypermobiles Leben („Provisorisch“), Flüchtlingsthematik („Was nehm ich mit? (wenn es Krieg gibt“?) oder Gesundheitswahn und Vergänglichkeit („Blätter & Menschen“). Bernadette Hengst, Peta Devlin, Karen Dennig und Katja Böhm singen und spielen da mit einer Dringlichkeit, mit einem Groove, der schlichtweg großartig ist – eingefangen als Produzent von Frank Dostal (1945–2017).

Platz 9 – Die Goldenen Zitronen: Lenin

Die Goldenen Zitronen sind die Bank in Sachen Haltung und Subversion. 1984 gegründet, verließ die Gruppe bald die Fun-Punk-Gefilde („Am Tag als Thomas Anders starb“) und begann, ihr Nicht-Einverstanden-Sein komplexer, auch schärfer zu intonieren („Das bisschen Totschlag“). Auf ihrem neunten Studioalbum „Lenin“ (2006) sezieren die Agitprop- und Avantgarde-Künstler Globalisierung, Doppelmoral und Konsumverhalten, etwa im Song „Wenn ich ein Turnschuh wär“. Die Musik ist auf geniale Art enervierend – zwischen Electrostakkato und Störgeräuschmelodien. Schorsch Kameruns im Nervös-Sprech vorgetragene Wort-Collagen sind als Gesellschaftsanalyse stets auf der Höhe der Zeit. Die „Goldies“ sind Kollektivmenschen, das Cover zeigt ein Gemälde von Malerstar Daniel Richter.

Platz 8 – Tocotronic: Digital ist besser

Was für eine Offenbarung: Statt Schlager-Scheinheiligkeit oder Breitbein-Rock besangen da drei Typen die generelle Wurschtigkeit des Daseins zu Schrammelakkorden. Der Dilettantismus sollte sich später legen, der Sound verfeinern und mit Rick McPhail ein Spezi an der Gitarre hinzukommen, doch 1995, als das Debüt „Digital ist besser“ erschien, war das Dröhnen, das Schiefe und Schlurfige schönster Ausbruch aus der phlegmatischen Kohl-Ära. „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ oder „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ sind mittlerweile nicht nur Songtitel, sondern Sinnsprüche, ja Popkulturgut. Nicht zu vergessen das legendäre „ Hamburg rockt“ – kein Marketingslogan, sondern eine Hassode auf Gitarrenhändler. Tocotronics Wut ist meist auch witzig.

Platz 7 – Westernhagen: Mit Pfefferminz ...

Ende der 70er-Jahre begann sich die erste Generation des Deutschrock mit Bands und Künstlern wie Udo Lindenberg, Peter Maffay, BAP oder Karat zu etablieren. Und die räudigste Platte dieser Zeit stammt von einem dünnen Hamburger Hering. „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ von Marius Müller-Westernhagen klebte 1978 wie ein Kneipentresen morgens um Vier nach dem Auftritt einer Stones-Coverband, die nicht schön sang, aber geil und laut. Nach drei Liedermacher-Alben ließ Marius es krachen mit Songs, die bis heute die absoluten Fanfavoriten geblieben sind: „Mit 18“, „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“, „Johnny W.“, dazu noch die beiden Skandalnummern „Dicke“ und „Grüß mir die Genossen“. Und das Beste an der Scheibe: „Sexy“ und „Freiheit“ sind nicht drauf.

Platz 6 – Deichkind: Aufstand im Schlaraffenland

Als Deichkind sich mit dem dritten Album „Aufstand im Schlaraffenland“ 2006 vom Hip-Hop abwandte und mit Krawall und Remmidemmi zur Electric Super Dance Band mutierte, waren sich so ziemlich alle Magazine und Kritiker einig: Das braucht kein Mensch, das ist das Ende von Deichkind. Spulen wir elf Jahre vor: Die Crew vom Deich hat drei weitere Alben, zuletzt 2016 die Nummer-Eins-Platte „Niveau weshalb warum“ veröffentlicht, füllt die großen Arenen und den Headliner-Platz auf Festival-Plakaten und zählt zu den besten deutschen Live-Bands. Und mit „Aufstand im Schlaraffenland“ und den noch heute zur Show gehörenden Songs „Remmidemmi“, „Prost“ und „Voodoo“ wurden die entscheidenden Weichen gestellt. Die Platte ist beschissen? „Wir tanzen auf den Tischen“!

Platz 5 – Udo Lindenberg: Stark wie Zwei

Den Echo für sein Lebenswerk bekam Udo Lindenberg 1992 aus zwei Gründen. Für den Beweis, dass Rock auf Deutsch möglich und nötig ist. Und weil man dachte, von Udo kommt nix mehr, der Panikrocker hing ziemlich durch. Doch wie „Phoenix aus der Flasche“, so Udo, tauchte er 2008 mit „Stark wie Zwei“ wieder auf, einer modernen, lässigen und mit Hits gespickten Platte. „Ich mach mein Ding“, sang Udo, und die bunte Republik zog ihren Hut, schenkte Lindenberg zum ersten Mal in mehr als 40 Jahren Karriere die Chartsspitze und katapultierte den Astronauten aus der Versenkung in die Stadien. „Stark wie Zwei“ ist die from-zero-to-hero-Platte der deutschen Popgeschichte und steht hier nur nicht auf dem ersten Platz, weil bei Udo immer noch Luft nach oben ist. Da geht noch was.

Platz 4 – Boy: Mutual Friends

Mit ihrem internationalen Superhit „Little Numbers“ waren Valeska Steiner und Sonja Glass, Hamburgs zauberhaftestes Pop-Duo, sogar big in Japan. Die Big-in-Japanhaftigkeit ist bekanntlich der Goldstandard des popmusikalischen Schaffens, nicht wahr? So oder so: Es ist ein großes Glück, dass es Boy gibt, jene an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater geborene Band; der „Popkurs“ dort hat sich allein deswegen bewährt, weil Steiner und Glass sich hier kennenlernten. Das Boy-Debütalbum „Mutual Friends“ von 2011 ist ein Musterbeispiel zeitgenössischen Pops, der liebevoll gemacht ist und eine eigene, nun ja: Note hat. Der Charme des Mädchenpops wurde lange nicht so schön ausgespielt wie hier, und wenn Leichtigkeit auch Tiefe verspricht, dann klingt das so wie hier.

Platz 3 – Niels Frevert: Du Kannst Mich An Der Ecke ...

Der unvergleichliche Niels Frevert also, „Der Typ, der nie übt“. Ein großer Künstler, ja: ein Wahnsinnskünstler! Ein Meister darin, „die Worte zum Papiercontainer zu bringen“. Früher mal bei Nationalgalerie („Evelin“) und ziemlich rockistisch, dann stöpselte er sich aus und schrieb die schönsten, wahrsten und ältesten Lieder über das Ich und die Welt. Am besten gelang ihm das 2008 auf „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“, auf dem Frevert gezupfte Gitarren mit Streicherarrangements verband und über Baukräne, Waschmaschinen und das Aufwachen auf Sand sang. Mehr Schönklang war nie, der Rückzug aufs Selbst wurde nie lyrischer beschrieben. „Du kannst mich ...“ ist für die After Hour, ein Meisterwerk und der Pop gewordene Blick auf die Welt als Traumsequenz.

Platz 2 – Absolute Beginner: Bambule

Der Hamburger Hip-Hop ist der Inbegriff dichterischer Popkultur, und seine am geilsten reimenden Agenten sind Denyo, Eizi Eiz und DJ Mad. Heute sind sie die Beginner, aber als sie 1998 „Bambule“ machten und ihr „Liebeslied“ sangen, als sie „ Hammerhart“ waren, wie es nur Hip-Hopper aus Hamburg, Germany sein können, da definierten sie ihre Spielart des Pop. Wenn Rap die letzte Revolution der Popgeschichte war, dann haben die Beginner den Kurs für Fortgeschrittene nie belegen müssen. Als die älter gewordenen Musiker, immer noch im Vollbesitz des coolen Wissens und der absoluten Wortmacht, vor knapp anderthalb Jahren wieder da waren, freuten sich alle ein zweites Loch in die Platte. Eizi Eiz alias Jan Delay schreibt derzeit übrigens einen Fußballsong. Geil. Er kann alles.

Platz 1 – Blumfeld: L’État et moi

Ein Meisterwerk. Angefangen beim dreisten Album-Cover, für das die eigenen Köpfe und jene befreundeter Musikern auf Elvis’ güldenen Show-Körper montiert wurden. Warum auch Kleckern? Jochen Distelmeyer ist der King des Diskursrock, der deutschsprachigen Pop-Poesie. Seine Band Blumfeld: ein kantig aufspielender Hofstaat. Und die Platte „L’Etat Et Moi“ (1994): eine grandiose, schlaue und hoch lyrische Verortung des Ich im Staat, die nur so strotzt vor Querverweisen – von Schiller und Nietzsche über die TV-Serie „Klimbim“ bis hin zu Bands wie Ton Steine Scherben. Immer wieder reflektiert „Jochy­boy“ auch das eigene Schaffen, etwa im Überhit „Verstärker“: „Als Text der kein Behälter Sarg sein mag / schreib ich mich auf / um nicht zu ex- oder zu implodieren.“ Ein Superstaralbum.

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