Hamburg. Bei ihrem Konzert in der Elbphilharmonie dirigierte und sang Barbara Hannigan Werke von Schönberg bis Gershwin.

Hätten sich Hitchcock und Freud nach einer Überdosis von Wagners „Tristan“ vorgenommen, eine melancholische Thomas-Mann-Novelle als Beziehungsthriller mit gutem Ausgang zu vertonen, wäre womöglich ­etwas ähnlich Atemberaubendes wie Schönbergs „Verklärte Nacht“ herausgekommen.

Der spätere Zwölf­töner, ­damals noch knietief in der Inbrunst der Spätromantik versunken, schaffte es bei seinem frühen Opus 4 aber auch allein und hinterließ Musik, an deren Ende man die Engel flirten hört. Mit diesem Meisterwerk – alles andere, als einfach zu ­dirigieren, weil es so irre flüchtig ist – ­eröffnete die vor allem als Sopranistin bekannte Barbara Hannigan ihr Konzert mit dem ­holländischen Orchester Ludwig in der Elbphilharmonie. Als Dirigentin. Gesungen wurde erst später, ­dafür aber beim Dirigieren.

Attaktionen gab es einige

Obwohl: So ganz stimmt das nicht mit der Eröffnung, denn den Auftakt des mustergültig klug collagierten Programms war Debussys ätherisches Flötensolo „Syrinx“, im abgedunkelten Großen Saal jenseits der Bühne ins Dämmerlicht gespielt, wie eine Erinnerung, von der man nicht mehr weiß, ob sie stimmt oder nur geträumt wurde. Als Appetithäppchen dahingehaucht, ein Duftmärkchen mit einem blumigen Parfum, zur subtilen Einstimmung auf kommende ­Attraktionen, von denen es hier so einige gab.

Dirigieren ist für sie Verlängerung ihres Singens

Die größte, energiegeladenste und ­musikalisch verführerischste Sensation war die drahtig durchtrainierte Ganzkörpermusikerin auf dem Präsentierpodest, von deren Bühnencharisma an der hiesigen Staatsoper die komplette „Lulu“-Inszenierung unter Starkstrom gesetzt wird.

Hannigan singt, wie sie dirigiert, und dirigiert, wie sie singt: unmittelbar, hoch konzentriert, mit spielerischer Lässigkeit und um engsten Kontakt zum Gesamtgeschehen bemüht. Dieser Trick funktionierte auch bei diesem Schönberg, den sie so vorsichtig modellierte, als bestände er nur aus Luft und Liebe.

Man kann den Kuchen nicht gleichzeitig essen und ihn auch behalten, mahnt ein US-Sprichwort. Hannigan kann sehr wohl. Höchstwahrscheinlich ­gelingt ihr das nicht mit jedem Repertoire-Kaliber, sondern nur mit seelenverwandten Werken, die ihrem Abenteurerinnen-Naturell und ihrer in den vergangenen Karrierejahren gewachsenen Vorliebe für brandneue und nicht ganz so neue Avantgarde entsprechen und entgegenkommen.

Schwerstarbeit in allem

Dirigieren ist für sie eine wortlose, vielsagende Verlängerung ihres Singens. Und da sie als Multitasking-Interpretin beide Seiten der Partitur kennt, den Gesangspart ebenso wie den ­Orchesteranteil, profitiert ihre Auseinandersetzung gleich doppelt, sie kommuniziert körpersprachlich einerseits mit dem Publikum und andererseits mit dem Orchester. Schwerstarbeit, alles in allem.

Die zweite Programmhälfte gehörte faszinierenden Schwestern im Geiste: Bergs Femme fatale Lulu und den lea­ding ladies aus Gershwins Musical-Klassiker „Girl Crazy“. Beide erblickten in etwa zur gleichen Zeit das Licht der Welt, doch das auf diametral gegensätzlichen Bühnen und in unterschiedlichsten Klangwelten – hier Zwölfton, dort Broadway.

Wer Hannigan als männermordenden Freigeist Lulu bislang an der Dammtorstraße verpasst hatte, bekam hier durch die „Lulu Suite“ einen Eindruck von Bergs kalt glühender Modernität; von dieser erbarmungslos ausgereizten Musiksprache, die sich nicht ins Sichere der Tonalität zurückzieht, die nie einen klaren Ruhepunkt findet. Im „Lied der Lulu“ war Hannigan ganz bei sich, ganz und abgrundtief in ihrer Rolle. Begeisterter Beifall nach Berg? Auch keine Selbstverständlichkeit.

Rollentausch, Fachwechsel. Gershwin, passend genäht von einem Arrangement in der „Lulu“-Instrumentation, die viel zu kurze Potpourri-Nummernrevue mit den Evergreens „But Not For Me“, „Embraceable You“ und „I Got Rhythm“. Hannigan vergaß ihre gute Opern-Erziehung und sang sich ins ­Entertainment-Glück. Bei „Embrace­able You“ sang das Orchester mit. Und am Ende strahlte Hannigan vor Glück mit der Saalbeleuchtung um die Wette.

CDs: „Crazy Girl Crazy“, inkl. der Film-DVD „Music is Music“ (Alpha). „The Passion of Charlie Parker“ (Universal). Die nächsten ­„Lulu“-Vorstellungen an der Staatsoper:
27./30.1., 3./8.2.