Hamburg. Der Deutschen liebstes Kirchenmusikstück ist alle Jahre wieder eine große, beglückende Gemeinschaftsunternehmung.

Kaufhausbesucher beschweren sich quasi seit den Sommerferien über frühreife Spekulatius in den Auslagen. Nur auf die Kirchen ist noch Verlass. Die warten pietätvoll, bis der Totensonntag herum ist, bevor das erste Weihnachtsoratorium steigt – aber dann gibt’s kein Halten mehr.

Termine

Bei Bachs Allzeithit können selbst hartgesottene Atheisten nicht widerstehen, das Stück gehört zu Weihnachten nun mal dazu wie Zimtstern und Kerzenschimmer. Damit Sie mitreden können, machen wir einen kleinen Rundgang durch eine Aufführung.

Eins schon mal vorweg: Wenn ein Musiker vom Weihnachtsoratorium spricht, sagt er WO (ausgesprochen We-Oh).

Wasser für den Evangelisten

Der Evangelist (Tenor) erzählt in Rezitativen die Weihnachtsgeschichte nach Lukas (ein bisschen Matthäus ist auch dabei) vom Volkszählungsbefehl des Kaisers Augustus bis zum Abzug der Heiligen Drei Könige. Unerlässlich für diesen Nonstop-Einsatz sind eine bewegliche Stimme, eine klare Diktion, Kondition und eine Wasserflasche. Es gibt ein paar Berufsevangelisten, die während der Saison ganze Regionen versorgen. Es ist nicht übertrieben, für die Arien einen zweiten Tenor zu engagieren. Aber es kostet.

Ohne Kantor kein WO

Ohne den Kantor läuft gar nichts. Der steht nicht nur am Dirigentenpult. Er hat die Gesangssolisten und das Orchester engagiert, die Noten eingerichtet und mit dem Chor auch dieses Jahr wieder die hohen Stellen in „Herrscher des Himmels“ geprobt. Er teilt die Helfer für Auf- und Abbau der Podeste ein, ringt mit dem Küster um die Probenzeiten und ist Anlaufstelle für das frühere Chormitglied, das das Programmheft schreibt. Und sollte es ihn nach einem weiteren Job gelüsten, kann er noch mit dem Cembalo beim Continuo (siehe dort) mitmischen.

Der Chor in Feierlaune

Der Kirchenchor ist das Herz der Gemeinde; einen stärkeren sozialen Klebstoff als das Singen kann man sich kaum denken. Das WO ist der Höhepunkt des Jahres. Hinterher gibt es ein Chorfest mit Büfett und Reden mit Rückblick, Ausblick und Verabschiedungen. Außerdem ist Chor die Bezeichnung für eine Chornummer, die kein Choral ist. Jede Kantate hat mindestens einen davon, der berühmteste ist der Eingangschor der ersten Kantate „Jauchzet, frohlocket“.

Einzelkämpfer im Einsatz

Die Solisten haben ihre Auftritte in den Arien. Das sind die Momente, in denen der Einzelne die biblische Botschaft verinnerlicht. Die barocke Lyrik ist recht überschwänglich im Tonfall und nicht gerade leibfeindlich. „Labe die Brust, empfinde die Lust“, singt der Alt – natürlich der Alt – etwa in der Arie „Schlafe, mein Liebster“. Glaubenslust? Warum nicht? Vielleicht lassen Sie sich aber auch von der entzückenden Echo- Arie überraschen – einer von vielen Gründen, sich die Kantaten vier bis sechs doch mal anzuhören.

Die Kohle muss stimmen

Muggen (im Musikerjargon „musikalische Gelegenheitsgeschäfte“) sind in der freien Szene naturgemäß weit verbreitet. In der Weihnachtszeit spielen nicht fest angestellte Musiker oft einen wesentlichen Teil ihres Jahreseinkommens ein. Den Spitzenplatz im Weihnachtsrepertoire nimmt das WO ein. Welches Honorar sie bekommen, darüber hüllen sich die Musiker gern in Schweigen – genau wie umgekehrt die Kantoren über ihre Budgets. Auch in der Kirche gibt’s Betriebsgeheimnisse.

Die Qual der Kantatenwahl

Maßeinheit im Weihnachtsoratorium ist die Kantate. Das Werk besteht aus sechs von ihnen. Ursprünglich wurden sie zur Weihnachtszeit einzeln in den Gottesdiensten gespielt, beginnend am 25. Dezember. Jede dauert ungefähr eine halbe Stunde. Man spricht von „WO eins bis drei“ oder „WO eins bis sechs“. Nur „WO vier bis sechs“ allein kommt kaum vor; erstaunlicherweise ist der erste Teil, also die Kantaten eins bis drei, wesentlich beliebter. Die sind so gut wie immer dabei. Die Kantaten vier bis sechs haben eher Bonuscharakter. Das haben sie nicht verdient. Es gibt auch handverlesene Kombinationen wie „1-3 und 6“ oder „1 und 4-6“.

Diebstahl als Kompliment

Die Gemeinde der Gläubigen reflektiert das Geschehen in Chorälen, das sind liedhaft schlichte vierstimmige Sätze. Weil im WO so viele davon vorkommen, muss man sich für die Gestaltung etwas einfallen lassen, aber manieriert soll es auch nicht werden. Manche Choräle sind von Bach, andere hat er bei seinen Kollegen und Vorläufern entlehnt. Das galt damals nicht als geistiger Diebstahl, sondern als Kompliment.

Der schweigende Sopran

Der Sopran schweigt in den ersten drei Kantaten über weite Strecken. Lichtblick ist ein kurzer, aber prominenter Auftritt als Engel mit „Fürchtet euch nicht“. Übrigens ist er nicht notwendig eine Sopranistin, auch Knaben singen Sopran oder Alt. Das ist kein Zeichen, dass Bach in Genderfragen besonders fortschrittlich gewesen wäre, sondern Ausdruck des Schweigegebots für Frauen in der Kirche. Der Maulkorb ist zwar heute passé, bei Tenor und Bass ist aber dann auch schon wieder Schluss mit der Gleichberechtigung. Und die Originalklangbewegung setzt sowieso schamlos Countertenöre ein.

Die Dauerspieler

Die Continuogruppe besteht üblicherweise aus Cello, Kontrabass (bei historischen Instrumenten Violone) sowie Orgel und/oder Cembalo, Oberbegriff im Musikerjargon ist „Taste“, oft ist noch ein Fagott dabei. Das Continuo ist die Rhythmusgruppe jedes barocken Werks. Es trägt die Solisten auf Händen und ist pausenlos im Einsatz. Continuocellisten blättern mit links, während sie mit rechts weiterstreichen. Ob sie es während einer langen Note schaffen, ein Butterbrot zu essen, ist nicht überliefert. Es wäre ihnen aber zu gönnen.

Auf das Klima kommt’s an

Die Höhe der einzelnen Töne innerhalb eines Systems nennt man Intonation. Musikinstrumente reagieren sehr individuell, um nicht zu sagen divenhaft auf Schwankungen der Luftfeuchtigkeit und Temperatur. Das kann insbesondere Cembalisten zur Verzweiflung bringen. Merke: Das Cembalo stimmt nie, der Cembalist stimmt immer.

Der Star ist die Trompete

Die Trompete ist der instrumentale Star des WO. Schon die erste Kantate ist ein Trompetenfest mit dem Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“, der Arie „Großer Herr und starker König“ und dem Schlusschoral. Die Kantaten zwei, vier und fünf sind ohne Trompeten, aber auch sehr schön. Hörner spielen dagegen nur in zwei Nummern in der vierten Kantate. Der Part liegt aber so hoch und ist so schwer, dass Hornisten, die ihn spielen können, ähnlich rar sind wie gute Evangelisten. Es kommt vor, dass findige Kantoren die beiden Nummern einfach von den Trompetern auf dem Flügelhorn spielen lassen. Die sind ja sowieso schon da.

Zwischendurch aufs Klo

Nach drei Kantaten haben alle Beteiligten eine Pause nötig, sofern dann nicht ohnehin Schluss ist. Manche Chöre stemmen auch noch ein Pausencatering. Für den zweiten Teil braucht es meist eine Extra-Eintrittskarte, im Doppelpack mit Teil eins ist sie aber oft sehr viel günstiger. Frühes Einreihen in die Toilettenschlange empfiehlt sich. Zumindest das haben die Kirchen mit dem neuen Konzerthaus an der Hafenkante gemeinsam.