Hamburg. Hannah Leser ist eine der Darstellerinnen im neuen Stage-Musical. Erst im Sommer hat die 22-Jährige ihre Ausbildung beendet.

Wie sagt der Phonetik-Professor Higgins im Musical „My Fair Lady“ doch so schön: „Ich glaub, jetzt hat sie’s!“ Es geht dabei um die Frage, ob es möglich sei, aus dem einfachen und bescheidenen Londoner Blumenmädchen Eliza Doolittle in wenigen Monaten eine echte Lady zu machen. Hannah Leser hat gleichfalls eine eigentümliche Bescheidenheit. Und sie hat das gewisse Etwas. Mit einem gewinnenden natürlichen Charme und ihren roten langen Haaren posiert sie unter einem Regenschirm und steigt auf ein rotes Sofa. Die grünen Augen strahlen derart, dass der erfahrene Abendblatt-Fotochef auf dem Zwischengeschoss der Stage School sichtbar Spaß an der Arbeit hat. Zwar geht es nicht um ein Blumenmädchen, aber um das wohl berühmteste Kindermädchen der Jugendliteratur: „Mary Poppins“.

Neue Musicals

In der Titelrolle wird Hannah Leser als eine von zwei Hauptdarstellerinnen von Ende Februar 2018 an in Hamburg zu erleben sein, im Stage Theater an der Elbe. Der Broadway- und Disney-Hit „Mary Poppins“, dank weltbekannter Melodien und seiner generationenübergreifenden Geschichte seit Jahrzehnten ein Publikumsrenner, folgt auf „Der Tanz der Vampire“. Und Lesers nahende Hamburg-Premiere ist eine kleine Sensation: Erst im Sommer hat die 22-Jährige ihre dreijährige Ausbildung an der Stage School, Deutschlands größter privater Bühnenfachschule, beendet.

„Fenster zur Zukunft“

Unweit des Altonaer Bahnhofs hat sie ihr Handwerk – Schauspiel, Gesang und Tanz – gelernt. Jetzt sitzen wir im Raum 4.7., „meinem Fenster zur Zukunft“, wie es Hannah Leser ausdrückt. „Es war wie mein zweites Zuhause“, sagt sie, „ich wäre gern noch ein Jahr geblieben.“ Die Zeit sei so wahnsinnig schnell vergangen. Ihre Leidenschaft sei schon immer der Gesang gewesen, erzählt die ausgebildete Bühnendarstellerin. Bereits mit 13 Jahren hatte sie Gesangsunterricht.

Und als ihre Eltern berufsbedingt mit ihren beiden jüngeren Schwestern in die USA zogen, spielte die im badischen Emmendingen geborene Hannah im US-Bundesstaat Connecticut fast jeden Tag zwei bis drei Stunden Theater an der Highschool. Der Wunsch, es mit Musical zu versuchen, war immanent. Für eine Aufnahmeprüfung an einer Schule fuhr sie mit ihrer Mutter nach New Heaven und wäre auch genommen worden. „Aber es hätte 30.000 bis 40.000 Dollar pro Jahr gekostet. Und dann mit einer sechsstelligen Summe Schulden ins Berufsleben starten?“ Das wollte Hannah Leser sich und ihrer Familie nicht antun.

Sie fand keine Wohnung

Zurück in Deutschland, öffnete sich der Weg zur Musical-Karriere nach dem Abitur 2014 in Köln. Dorthin hatte die Stage School mitsamt ihren reisenden Dozenten geladen – und Hannah war die Einzige, die zur Prüfung erschien. Sie sang „Some Things Are Meant To Be“, eine Ballade aus dem Musical „Little Women“, und „The Text Message Song“: „Es war mein Ticket“, erinnert sich Leser.

Problem nur: Die Zeit für den Umzug bis zum Semesterbeginn 2014 war knapp. Und Hannah, die zuvor mit ihrer Familie nur einmal einen Tag in Hamburg verbracht hatte (inklusive eines Besuchs beim „König der Löwen“), fand so schnell keine Wohnung. Hätte Thomas Gehle, Chef der Stage School, sie nicht kurzfristig in einer WG mit zwei Kommilitonen in Barmbek-Süd einquartiert – die Musical-Karriere der Hannah Leser wäre wohl schon am Hamburger Wohnungsnotstand insbesondere für Studierende gescheitert.

Tänzerin und Mörderin

So startete Hannah Leser mit drei Wochen Verspätung, und erst für das dritte Jahr bekam sie von Gehle und den Dozenten ein Stipendium. „In den ersten zwei Jahren war ich auch gar nicht so gut“, sagt Hannah Leser mit ehrlicher Selbstkritik. Dass die Stage School im Frühjahr 2016 in Altona-Altstadt mit dem First Stage ihr eigenes Theater öffnete, half ihr wie den weiteren jüngsten Absolventen.

„Ich bin so unmusikalisch“, hieß ihre erste Solonummer zwar bei einer der Monday Night Performances, doch mit dieser Selbstironie spielte die Bühnen-Novizin ebenso gekonnt wie ihre Hauptrolle in der Sommer-Abschlussproduktion, dem Musical „Chicago“. In dem Broadway-Klassiker, der einen Justizskandal der 1920er-Jahre zum Thema hat, gab Hannah Leser die im Gefängnis inhaftierte glamouröse Velma Kelly, eine Tänzerin und Mörderin. „Ich habe insgesamt an neun Stücken mitgewirkt, das waren sicher bald 100 Auftritte“, rechnet sie vor. „Echt krass.“ Sie sei froh gewesen, „dass wir ,Chicago‘ machen konnten“. Für das Stück schuf sie eigene Kostüme: „Ich nähe total gern, um auf andere Gedanken zu kommen“, erklärt sie ihr Hobby.

Sicherheit auf der Bühne gewonnen

Die gewonnene Sicherheit auf der Bühne zeigte sich im finalen „Best of 2017“, den Solonummern der zehn besten Absolventen dieses Jahres. Darin erzählte Hannah mit ihrer klaren Stimme und in beeindruckenden Tanzszenen die komische Geschichte einer jungen Frau, die vor dem Altar auf ihren Bräutigam wartet weil der im Stau steckt. Solo auch mal etwas Satirisches zu machen, etwa vom gewitzten Hamburger Klavierkabarett-Entertainer Bodo Wartke, schwebt ihr für die Zukunft vor.

Schon jetzt aber heißt die Gegenwart „Mary Poppins“. Kürzlich feierte Hannah Leser ihre persönliche Premiere als Einspringerin im Stuttgarter Apollo Theater, in dem die Wahlhamburgerin schon seit Ende August regelmäßig geprobt hatte und wo das Musical noch bis Ende Januar läuft. Dort hat Hannah Leser bereits von ihrer erfahrenen Kollegin Elisabeth Hübert („Mamma Mia!“, „Tarzan“) gelernt, die das Stage Theater an der Elbe durch „Das Wunder von Bern“ kennt. Die heute 30-Jährige hatte die Stage School im Jahr 2007 erfolgreich absolviert.

„Supercalifragilistischexpialigetisch“ – ein Wort, das Mary Poppins für alles verwendet, was es im Leben auszudrücken gilt, ist noch nicht komplett in Hannah Lesers Sprachgebrauch übergegangen. Es könnte auch für tänzerisch anspruchsvoll stehen. Denn das ist die eingängige Story in jedem Fall. „Mein Hals ist so lang“, ist Hannah beim Betrachten einiger Fotos noch aufgefallen. Doch sie nimmt auch das mit Humor. Man muss sie eben live erleben. Sie wächst an ihren Aufgaben, im Jahr 2018 statt im kleinen Theater First Stage sicher auch mal auf ganz großer Bühne im Theater an der Elbe.