Hamburg. „Il ritorno d‘Ulisse“ hat am Sonntag in der Staatsoper Premiere. Dirigent Vaclav Luks leitet die Aufführung des anspruchsvollen Werks.

Ein Junge, ein Mädchen, zwei italienische Sippen, die sich hassen, dazu eine Portion Hauen und Stechen – und Gift genug für zwei. Hätten wir Shakespeares „Romeo und Julia“ nur in Kurzform geerbt, wäre das in etwa die dramatische Essenz. Etwa 50 Jahre später entstand eine der wichtigsten Opern der Musikgeschichte, doch von ihrem Gefühlstreibstoff Musik ist nur ein Rumpf-Manuskript erhalten, eine Gebrauchsanweisung für Eingeweihte mit enorm vielen leeren Seiten.

Denn von Monteverdis „Il ritorno d‘Ulisse“, 1640 in Venedig uraufgeführt und einen Teil von Homers „Odyssee“ erzählend, gibt es nur ein einziges Manuskript, das aber nicht vom greisen Markusdom-Kapellmeister stammt und sich von den mehreren erhaltenen Textbuch-Variationen unterscheidet. Es besteht nur aus Melodielinien und Generalbass-Notationen als codierte Spielregeln für die ausführenden Musiker. Heutige Partituren, in denen für alle alles haarklein und eindeutig legitimiert feststeht und die nur „richtig“ gespielt werden müssen, waren zu Monteverdis Zeiten weit entfernte Zukunftsmusik. Und ohnehin sind nur drei seiner vielen Opern so „erhalten“, dazu ein Fragment einer vierten. Die anderen: verschwunden, Legende für Musikwissenschaftler-Träume.

Ordnende Hand des Dirigenten ist wichtig

Damals wusste man genau, was man mit solchen Puzzleteilen tun konnte und lassen sollte, um ein Gesamtbild zu zaubern, heute muss man es virtuos rekonstruieren und erspüren, um eine stilistisch angemessene Aufführung hinzubekommen. So vieles ist zu bedenken; das fängt bei den Tempi an und endet noch längst nicht bei der Frage, welche und wie viele Instrumente die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne begleiten. Bläser ja oder nein, und wenn ja, welche und wie viele? Flöten? Zinken?

Alte Posaunchen womöglich, um noch mehr Farbenvielfalt zu erzeugen? Eher mehr Streicher, um eine hörbare Grundlage zu schaffen, oder weniger, wie damals in Venedig, wo man sich aus Kostengründen beim Engagieren von Musikern bremste? Oder eher mehr Begleitung durchs Continuo, um die Freiheiten zur Ausschmückung des Gesungenen besser zu nutzen? Und überhaupt: Monteverdis Musik wurde eindeutig nicht für ein zeitgenössisches, hangargroßes Opernhaus mit rund 2000 Plätzen geschrieben. Dort können viele Feinheiten schnell verloren gehen.

Der Musik dienen

Am Sonntag hat eine neue Version von Monteverdis spätem Meisterwerk Premiere an der Hamburger Staatsoper, als Übernahme einer 2014er-Produktion von der Oper Zürich, und Dirigent Vaclav Luks ist entspannt zuversichtlich, die vielen Monteverdi-Rätsel für sich und sein Prager Spezialisten-Ensemble Collegium 1704 stimmig gelöst zu haben. Die Substanz des Stücks sei zu 90 Prozent da, meint er. In diesem Fall arbeitet das Ausgrabungsteam im Orchestergraben mit der Bärenreiter-Ausgabe, einer Neuedition, die der Monteverdi-Kenner und Cembalist Rinaldo Alessandrini 2007 veröffentlicht hat.

Monteverdi ist nur so gut, wie man ihn spielt? Nicht ganz richtig, findet der tschechische Cembalist, Dirigent und Hornist. „Man muss der Musik dienen und sie gut für ein heutiges Publikum übersetzen können.“ Und wo es keine klaren Vorgaben gibt, ist die ordnende Hand des Dirigenten umso nötiger. Kollektivimprovisation also, wie im Jazz, nur mit anderen Vokabeln? „Ich würde sagen – eine organisierte Improvisation, da kann nicht jeder spielen, wozu er Lust hat.“ Man könnte das als Interpret ex­trem furchterregend empfinden oder als extrem befreiend. „Diese Frage stellt man sich gar nicht“, entgegnet Luks, „wir kennen diese Musik nur so. Die Pflicht, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, gehört eng dazu. Man fragt sich ja auch nicht, ob es befreiend oder lästig ist, dass Bier Schaum hat.“

Der Komponist

Obwohl die Monteverdi-Dreifaltigkeit – „Orfeo“ (1607) , „Ulisse“ (1640), „Poppea“ (1642) – ein Fundament für die Operngeschichte legte, sind diese drei Werke gänzlich anders als alles, was man heutzutage und gängigerweise unter „Oper“ versteht. Und doch, meint Luks, sind diese Antiquitäten hochaktuell. „Er wollte menschliche Gefühle direkt ansprechen, das ist ihm restlos gelungen. Diese Musik ist zeitlos.“

So wegweisend der 42 Jahre vor Bachs Geburt gestorbene Madrigal- und Opernkomponist Monteverdi zu Lebzeiten war, so heikel ist der Umgang mit seinem künstlerischen Erbe. Sein 450. Geburtstag in diesem Jahr ist ein willkommener Anlass, sich an den „Shake­speare der Musik“, wie der Monteverdi-Fan John Eliot Gardiner ihn nannte, zu erinnern, denn überschätzt wird der Norditaliener derzeit noch nicht. „In der Alten Musik steht er auf einer Höhe mit Genies wie Bach“, betont Luks. Aber, und das ist ein wichtiges Aber für den Bekanntheitsgrad: „Seine Musik ist nicht leicht aufführbar, sie ist für Laien nicht so zugänglich. Die Beliebtheit der Hochbarock-Musik erklärt sich ja auch daraus, dass jeder Amateurchor einmal im Jahr das Weihnachtsoratorium singen kann. Monteverdis Musik ist sehr anspruchsvoll – für Sänger und Zuhörer.“

Kaum zwei Takte laufen automatisch

Klar ist aber: Monteverdi sorgt für ganz andere Mühen – und Glücksmomente – als eine hochbarocke Oper von Händel oder Vivaldi. In den ersten Jahrzehnten ihrer Karriere hat sich die Oper als Musik-Theater-Abenteuer so rasant gewandelt wie kein anderes Genre. Entscheidend für das Erzählformat ist: Es ist „eine Sprache, die aus Musik gesetzt wurde, die Rhetorik bestimmt den musikalischen Ausdruck. Kaum zwei Takte laufen automatisch. Wir sollten die Mittel kennen, die damals benutzt wurden, aber wir müssen großzügig mit ihnen umgehen und es für ein heutiges Publikum sorgfältig dosieren, um eine tote Rekonstruktion zu vermeiden.“

Und um sich mit ihrer Monteverdi-Wiederbelebung den räumlichen Gegebenheiten an der Dammtorstraße anzupassen, wolle man den Raum verkleinern und die Aufmerksamkeit bündeln, verspricht Luks. „Man braucht keine 120 Dezibel, um Ausdruck zu machen.“

„Il ritorno d‘Ulisse“ Staatsopern-Premiere am 29.10., 18.00, Karten (8 bis 179 Euro) unter T. 35 68 68, weitere Termine und Informationen unter www.staatsoper-hamburg.de