Hamburg. Seit 15 Jahren sind in dem Kreativhaus barner 16 in Altona Künstler mit und ohne Behinderung gemeinsam aktiv. Ein Besuch.

Manchmal, da ist im Leben einfach alles zu viel, zu voll, zu verwirrend. Dann hilft es, sich zurückzuziehen. Die Hamburger Popband Stille Vann hat über diesen allzu menschlichen Zustand den eingängigen Popsong „Sorgenfrei“ geschrieben. „Mein Kopf ist voll Salat/Ich sehe rot und deshalb mach’ ich heute blau.“

Die Verse driften durch den Proberaum mit seinen vielen Boxen und den Kabeln an den Wänden. Parija Masoumi und Tamara Keitel schicken mitreißende Melodien aus ihren Synthesizern. Viola Hackbarth spielt cool ihren Bass. Und Lisa Radziejewski steht schwingend und singend am Mikrofon. Seit 2010 existiert die Band in wechselnder Besetzung, doch erst in den vergangenen Monaten hat Stille Vann zu dem luftig-leichten Popsound gefunden. Unterstützung fanden die Musikerinnen dabei durch zwei Hamburger Kolleginnen: Isa Poppensieker, Bassistin von Tonbandgerät, und Stella Sommer, Sängerin und Gitarristin von Die Heiterkeit. Seit Juli coachen die beiden das Quartett, das – wie zahlreiche weitere Bands – zum Kreativkollektiv barner 16 in Altona zählt.

Alltag mit ­Poesie bewältigen

In dem verwinkelten Gebäude – gelegen in einem Hinterhof an der Barnerstraße neben dem Monkeys-Musikclub – wirken mehr als 80 Musiker, Tänzer, Filmemacher, Siebdruck-Künstler, Autoren, Labelbetreiber und Booker mit und ohne Behinderung. Die gemeinnützige GmbH Alsterarbeit bietet den Künstlern so seit nun mehr 15 Jahren eine Anstellung inklusive Versicherung, die ihren Neigungen entspricht.

„Inklusives Netzwerk für Kulturproduktionen“ heißt das offiziell in der Fachsprache. Doch wer die barner 16 besucht, der merkt schnell: Theoretisch, grau oder gar steif ist dort gar nichts. Letztlich geht darum, den Alltag mit ­Poesie zu bewältigen. Sich eigensinnig, also mit allen Sinnen und Energien, auszudrücken. Und allüberall Skurriles sowie Schönes zu finden. Und sei es, dass da – wie im Lied „Pandileo“ – ein Burrito-Laden besungen wird.

Guter Groove entsteht nicht nur durch Proben

Die Songs schreiben die Bandmitglieder von Stille Vann (was übrigens norwegisch ist und „Stille Wasser“ heißt) alle gemeinsam. „Wir sammeln Ideen, Worte und Satzbausteine und bringen das dann zusammen in eine Form“, sagt Stella Sommer. „Das macht total Spaß“, sagt Isa Poppensieker – und erzählt dann noch vom jüngsten Ausflug in den Streichelzoo mit der versammelten Ladys-Crew. „So lernt man sich noch besser kennen als nur im Übungsraum“, erklärt Keyboarderin Parija Masoumi.

Arbeit, Kunst, Freizeit, Zwischenmenschliches – ein guter Groove, eine zündende Chemie entsteht eben nicht nur durch vier bis fünf Stunden Proben in der Woche. Im Februar will Stille Vann beim Festival „Nacht der barner 16“ im Resonanzraum auftreten. Vorher geht’s vielleicht noch ins Studio, um eine Platte aufzunehmen. Womöglich auch außerhalb des Kreativgebäudes. „Hier kommt ja ständig jemand rein“, sagt Masoumi und lacht. Stimmt. Soeben wehen Geräusche vom Mittagessen in den kleinen Musikraum. Gespräche, Geklapper, Gejuchze. Es gibt bunte Tortellini mit Fleisch- oder Gemüsefüllung. Kevin Hamann hilft in der Küche mit und belädt die Spülmaschine mit dreckigem Geschirr.

Theatermusical ist in Planung

„Mittwochs ist es hier immer wie aufm Bahnhof“, sagt der freundliche Mann mit dem Schnäuzer. Die Schreibgruppe Storyteller ist dann ebenso aktiv wie eine Jazz-Combo und die wohl bekannteste Band des Hauses, Station 17. Hamann, der mit Pop-Projekten wie ClickClickDecker und Bratze eifrig in der Hamburger Musikszene mitmischt, spielt in der barner 16 Gitarre bei dem Quartett Dain Fadinzt (gesprochen: Dein Fahrdienst).

Sein Mitmusiker Niklas Dreffin ist bei der Vorstellung etwas nervös, weshalb er seinen Namen lieber singt. Das klappt gut und klingt noch besser. Und spätestens, wenn die Band richtig loslegt, angetrieben von Schlagzeuger Oliver Ruhmkorf, geht der Sänger völlig aus sich heraus – wobei sich das Mikrokabel gerne mal in den Rädern seines Rollstuhls verfängt. Mit dieser Bühnenpräsens hat Dain Fadinzt bereits zahlreiche Konzerte absolviert – vom Stadtteilfest Billevue bis zum Laden Hanseplatte. Ein Theatermusical ist in Planung.

Dain Fadinzt im Übungsraum (v.l.):
Oliver Ruhmkorf, Kevin Hamann,
Niklas Dreffin und Thorsten Graf
Dain Fadinzt im Übungsraum (v.l.): Oliver Ruhmkorf, Kevin Hamann, Niklas Dreffin und Thorsten Graf © HA | Roland Magunia

Die Band ist ein exzellentes Beispiel für Hyperproduktivität und Synergieeffekte in der barner 16. „Die Heidi Fischer hier aus dem Haus hat im vergangenen Jahr ihre Autobiografie veröffentlicht, ‘Kreiselverkehr’. Sie hat sich Musiker ausgesucht, die auf ihrer Buchpräsentation spielen sollen, und daraus ist nun dieses feste Projekt geworden“, erläutert Keyboarder Thorsten „Toto“ Graf. Und Kevin Hamann ergänzt: „Frau Fischer möchte nicht vor Leuten lesen oder auf Buchmessen gehen, das bringt ihren Alltag zu sehr durcheinander. Deshalb vertonen wir ihre Texte.“ Als Vehikel verwendet Dain Fadinzt Songs, die viele Radiohörer kennen, zum Beispiel den 80er-Jahre-Hit „New York – Rio – Tokyo“ von Trio Rio, den die vier in einer schmissigen, lässig rumpelnden Pop-Rock-Variante intonieren.

„Wie wollen wir den Song eigentlich nennen? Mir fällt nichts ein“, sagt Toto. „Mir fällt nichts ein – das ist doch ein Spitzentitel“, erklärt Hamann und lacht. „Neeee“, erwidert Toto, „das geht nicht.“ Eine Weile diskutiert die Band, bis sich alle auf „Fischers Formel 1“ einigen. Schließlich handelt das Lied sowohl von Heidi Fischers ganz eigener kreiselnder Welt, als auch von Sänger Dreffins Passion für Rennwagen. Eine steile Kombination. Aber warum nicht. Denn schließlich kommt es auf die Mischung an – in der Kunst wie im Leben.

Infos: www.barner16.de