Hamburg. In Stefan Puchers „Tartuffe“ glänzen die Schauspieler, und wenn die Dramaturgie knirscht, helfen ABBA-Songs darüber hinweg.

Ach, wie langweilig! Wie glamourös, sexy, campy langweilig! Das beherrscht Stefan Pucher so gut wie kaum ein anderer zeitgenössischer Theatermacher: ein Ensemble auf der Bühne zu verteilen, um es dort in Weltverachtung, Müßiggang, Schönheit versinken zu lassen. Ennui. Der hier die Familie des Großbürgers Orgon befällt: die junge Gattin Elmire (spinnenhaft: Lisa Hagmeister), den Schwager (ölig: Matthias Leja), die Kinder aus erster Ehe, Damis (bisschen doof, bisschen „aggro“: Steffen Siegmund) und Mariane (bisschen doof, bisschen naiv: Birte Schnöink). Und die große Victoria Trauttmansdorff als Zofe Dorine mit giftsprühender Souveränität. Ewig möchte man dieser Bagage zusehen, man möchte schauen, wie Siegmund immer tiefer ins Polster sinkt, wie Hagmeister Barbara Ehnes biedermeierliche Drehbühne durchfließt, wie Schnöink verzweifelt versucht, Haltung zu bewahren und so auf ihrem Stühlchen immer mehr verkrampft. Ach, Langeweile, so schön.

Unsicherheit gegenüber dem Stoff problemlos überspielt

Aber man darf nicht mit den Figuren im Nichtstun versumpfen, eine Geschichte will erzählt werden. Die Geschichte, wie sich der frömmlerische Betrüger Tar­tuffe (Jörg Pohl, der sich mit blasiertem Understatement immer mehr zum Ensemblestar entwickelt) erst ins Herz, dann ins Bankkonto und schließlich ins Ehebett des Hausherrn Orgon (Oliver Mallison mit großer körperlicher Präsenz) schleicht. Im Uraufführungsjahr 1669 war das mit offener Kritik am Klerus, sexuellen Eindeutigkeiten und hemmungsloser Spottlust für einen handfesten Skandal gut – aber heute? Thalia-Intendant Joachim Lux erinnert in seiner Rede zum Spielzeitbeginn daran, dass „Tartuffe“ ursprünglich den Titel „Der Betrüger“ getragen habe, und von dort ist es nicht weit zur politischen Fake-News-Realität des Jahres 2017.

Eine Deutung, die auch das Programmheft mit Aufsätzen von Sebastian Herrmann und Georg Seeßlen zum performativen Charakter des US-Wahlkampfes nahelegt, allein: Tartuffe als Donald Trump, Tartuffes Jünger als verblendete Pegida-Spaziergänger? Solch eine Repolitisierung eines 350 Jahre alten Stoffs hat ihren Reiz, gerade auch für Regisseur Pucher, der am Thalia zuletzt mit beeindruckender Schärfe Becketts „Warten auf Godot“ an die abgeschotteten Außengrenzen Europas verlegte. Aber irgendwann während der Proben muss den Beteiligten aufgegangen sein, dass diese Deutung zu kurz greift, dass sie weder etwas über Molières Stück sagt noch etwas über den Horror heutiger Showwahlkämpfe. Den Ruf des Poptheatermachers hat Pucher schon seit mehr als 20 Jahren abgelegt, längst ist der heute 52-Jährige erfolgreich mit einer Art postdramatischem Literaturtheater. Aber dennoch weiß er, was in seinen Inszenierungen bisher jedes Mal funktionierte, wenn das Konzept ein bisschen knirschte: Songs.

Jeder Schauspieler hat einen großen Gesangsauftritt

Auch in „Tartuffe“ rettet die Popmusik immer wieder über inkonsequente Passagen hinweg, bloß, dass hier das Konzept nicht ein bisschen knirscht, sondern im Grunde überhaupt nicht läuft. Was bedeutet, dass der musikalische Rettungsanker praktisch pausenlos zum Einsatz kommt. Jeder Schauspieler erhält so einen großen Gesangsauftritt, für den Pucher seinen anscheinend gut gefüllten Schrank mit ABBA-Klassikern geplündert hat. Karin Neuhäuser kommentiert die Hoffnungslosigkeit der Handlung lakonisch mit „The Winner Takes It All“, Siegmund grölt „Mamma Mia“ in einer Happy-Hardcore-Version, und Schnöink ruft in herzzerreißender Unselbstständigkeit „SOS“ als dunklen Trip-Hop. Wobei letzterer Auftritt zwar auf abgründige Weise berührt, allerdings auch andeutet, wie wenig originell die Inszenierung arbeitet: In ebenjenem düsteren Genre hatten erst vor einem Jahr Portishead den im Original fröhlichen Song für den Soundtrack des britischen Kinofilms „High Rise“ gecovert.

Der Musikeinsatz also funktioniert, sorgt allerdings auch dafür, dass sich dieser „Tartuffe“ gefährlich jenen Musicals annähert, bei denen zusammengeklaubte Hits eine mehr oder weniger hanebüchene Handlung irgendwie illustrieren. Wenn Tartuffe sich Orgons Vermögen unter den Nagel reißt und Orgon-Darsteller Mallison darauf an der Rampe eine hemdsärmelige Version von „Money, Money, Money“ zum Besten gibt, dann spürt man eine Eindeutigkeit, die an massive Publikumsunterforderung grenzt. Und zudem jeglichen politischen Anspruch von vornherein zum Abschuss freigibt.

Indem er aber keinen politischen Ansatz findet, beweist Pucher, dass er nicht wirklich etwas mit Molières Vorlage anzufangen weiß. Allerdings ist der Regisseur so versiert in seinem Handwerk, dass er diese Unsicherheit gegenüber dem Stoff problemlos überspielt, mit sinnlichem, klugem, ironischem Theater, das ein hochtalentiertes Ensemble zu Spitzenleistungen treibt. Zumal dieser „Tartuffe“ mit rund 100 Minuten auch hinreichend kurz ist, um gar nicht die Ahnung aufkommen zu lassen, dass da vielleicht etwas fehlt, jenseits der coolen Videos, der reizenden Popsongs, der wunderbaren Schauspieler.

„Der Mensch, das muss ich sagen, ist wirklich ein gemeines Tier“, resümiert Orgon, nachdem der Betrüger (in einer haarsträubenden Deus-ex-machina-Volte) überführt wurde. „So, jetzt guten Appetit!“ Der Rest ist Ennui.

„Tartuffe“ wieder am 17.9., 24.9., 4.10., 9.10., 12.10., 18.10., 27.10., Thalia Theater, Alstertor, Karten unter 32 81 44 44,
www.thalia-theater.de