Hamburg. Mit „Die Geschichte der getrennten Wege“ liegt ein neuer Teil des Bestsellerquartetts der Schriftstellerin Elena Ferrante vor.

„Bitte spoiler mich nicht“, bat eine Freundin, als ihr mitgeteilt wurde, dass der dritte Teil von Elena Ferrantes Freundinnen-Saga derzeit auf dem Lesestapel oben liege. Sie hat die ersten beiden Romane, „Meine geniale Freundin“ und „Die Geschichte eines neuen Namens“, so verschlungen wie Millionen von Lesern – Ferrantes Epos wurde mittlerweile in 40 Sprachen übersetzt –, und sie wartete nun darauf, wie es weitergeht im archaischen Neapel des vergangenen Jahrhunderts. Ohne zu viel zu verraten: Es bleibt so brutal wie bisher. Es wird gestorben und geschossen, geohrfeigt und geschrien. Es wird geliebt, gehasst, betrogen.

Angefangen hat die Geschichte um die beiden Freundinnen Lila und Lenù, die Protagonistinnen der Saga, in den 50ern. In den ersten Bänden erlebt man die beiden als Grundschulkinder und Teenager. Man liest, wie sie sich im Nachkriegsitalien verlieben und entlieben, auch in den gleichen Mann.

Mehr Ghetto als italienische Idylle

Wie sie ringen, um Noten und Zuneigung, immer auch um sich selbst, ihre Freundschaft und – das ist zentral – um ein besseres Leben. Denn Lenù und Lila leben in einem Vorort, dem Rione, der mehr Ghetto ist als italienische Idylle. Hier regiert kein Gesetz, sondern Gewalt. Und der, der sich das meiste Geld ergaunern kann. Don Vito Corleone lässt grüßen. Lenù schafft es heraus aus diesem Sumpf an familiären Zwängen, Lila trotz Cleverness bloß in die benachbarte Wurstfabrik.

Im dritten und vorletzten Teil ist man in den 70ern angekommen. Aus Lenù und Lila sind Frauen geworden, die sich gegen diese mafiösen Strukturen stemmen, gegen Faschisten und Chauvis, die sich als Teil der Studentenbewegung stark für Arbeiter machen und für den Kommunismus begeistern. Aber, und das ist der größte Unterschied zu den vorhergegangenen Bänden, sie kämpfen auch gegen sich und einander. In „Die Geschichte der getrennten Wege“, der Name verrät es ja schon, entfernen sich die Freundinnen voneinander wie nie zuvor.

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Der Leser folgt fast ausschließlich Lenù, die die Geschichte als Erzählerin ja auch aufschreibt, die es nun endgültig fortgezogen hat aus ihrer neapolitanischen Heimat, die heiratet und Kinder bekommt – und dabei kreuzunglücklich ist. Mit ihrem Mann, einem Professorensohn aus reichem Elternhaus, den man bereits im vorherigen Band kennenlernte, ist sie nach Florenz gegangen. Zwar wird ihr Romandebüt ein Erfolg, aber an den kann sie nicht anschließen. Von Selbstzweifeln und Ängsten zerfressen lebt sie einsam vor sich hin. Auch für den Leser gerät das zur Durststrecke.

Denn man hat ja nicht wegen Lenù das Lesen begonnen, sondern wegen des neapolitanischen Viertels, aus dem sie stammt. Wegen des Rione und seiner Bewohner, wegen aalglatten Mafia-Brüdern und zeternden Mammas, wegen Dreck und Spucke, Blut und Galle und Herz. Und wegen der Liebe, die hier blitzschnell in ihr Gegenteil umschlagen kann, in Hass, der so aggressiv über den Leser hereinbricht, wie Lava aus dem Vesuv austritt. Klar, die Liebe spielt auch in diesem Teil eine Rolle.

Sehnsuchtsmensch und Hassobjekt

Aber eine kleinere. Die Geschichte nimmt erst dann richtig Fahrt auf, wenn Lenù heimkehrt. Denn da wartet Lila, die zweite Hauptfigur, ohne die Lenù nicht kann. Die Reibungsfläche ist, Sehnsuchtsmensch und Hassobjekt zugleich („Ich wünschte mir, sie wäre krank und sie würde sterben“). Lila, der eigentliche Motor der Erzählung.

Obwohl, darüber kann man sich streiten. Denn die Frage, mit wem man mehr sympathisiert, Lila oder Lenù, löst Diskussionen aus. Das kann man für kindisch halten. Aber wer die Romane kennt und die beiden Mädchen, der weiß, beim Lesen brennt man für eine der beiden. Neutral lesen geht nicht. Die einen sind klar für Lenù, die Brave, Ehrgeizige, Naive der beiden Frauen. Die anderen schlagen sich ebenso entschlossen auf Lilas Seite, die der Gerissenen, Radikalen.

Kritik oft bloß an der Oberfläche

So ist es ja auch bei dem Mehrteiler an sich. Die einen lieben die Bücher, sagen, es sei der größte Literaturexport aus Italien. Schriftsteller Jonathan Franzen ist zum Beispiel so ein Fan, auch Autorin Zadie Smith, Hollywood-Schauspielerin Gwyneth Paltrow und Michelle Obama sind begeisterte Leserinnen.

Klar, wie bei jedem Trend gibt es auch die, die den ganzen Wirbel nicht verstehen. Die die Geschichte für mittelmäßig halten und sie ein bisschen gelangweilt als „Frauenliteratur“ abtun. Dabei verharrt diese Kritik bloß an der Oberfläche.

Echte Erzählkunst

Denn was die Romane so meisterhaft können, das ist: eine Freundschaft zu erzählen, die zwischen Konkurrenz und Liebe mäandert, zwischen Abneigung, Neid und Verehrung. Die sich so unnachgiebig wie ein Drahtseil zwischen zwei Menschen spannt. Und so tief ist, dass sie auch bei Funkstille nie still ist. Das ist echte Erzählkunst. In Ferrantes Italien-Panorama trifft Daily-Soap auf den „Paten“, Historienroman auf Familienepos.

Sie streut Cliffhanger wie Brotkrumen, deren Spur man einfach nicht verlassen kann, und erzählt so unvermittelt, dass man in Lilas Wurstfabrik die Schweinehälften riecht. Klar, man verdreht auch mal genervt die Augen, weil die Figuren eben doch nicht alles kapieren, was man als Leser bereits durchschaut. Aber so ist das ja auch im echten Leben.

Ferrante – ob hinter dem Pseudonym die italienische Literaturübersetzerin Anita Raja steckt, wurde weder dementiert noch bestätigt – hat mit der Saga einen Coup gelandet. Die Geschichte hat sich nicht bloß millionenfach verkauft, die Filmrechte hat sich vor Kurzem der amerikanische Sender HBO gesichert. Und der hat ja mit „Game of Thrones“, „Girls“ und „Die Sopranos“ immer wieder einen guten Riecher für große Stoffe bewiesen.