Der jetzt erscheinende nächste Teil der Neapel-Saga “Die Geschichte eines neuen Namens“ ist ein Roman wie eine Droge. Spannend wie DVD-Serien.

Wer im vergangenen Sommer oder Herbst das Glück hatte, Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“ zu lesen, kann sich nun auf den jetzt erscheinenden zweiten Teil der Tetralogie stürzen, „Die Geschichte eines neuen Namens“. Der erste Teil des packenden, beinahe melodramatischen Fortsetzungsromans endete mit einem Cliffhanger: der Hochzeit der erst 16-jährigen Lila mit dem Lebensmittelhändler Stefano und der Erkenntnis der Braut, dass ihr Mann sie hintergeht, weil er Geschäfte mit den Solara-Brüdern macht, Mitgliedern der Camorra. Im neuen Band folgt nun der Aufstieg Lilas zur launischen Geschäftsfrau und eine Amour fou; außerdem Elenas verzweifelter Kampf um Bildung und ihre eher traurigen Liebesversuche, die mal dem tumben Antonio gelten, meist und verzweifelt aber dem Studenten Nino.

Ellena Ferrante Die Geschichte eines neuen Namens
Ellena Ferrante Die Geschichte eines neuen Namens © Suhrkamp | Suhrkamp

Die Jugendjahre der beiden neapolitanischen Mädchen sind ein ewiger Kampf gegen Entbehrungen und Ungerechtigkeit. Die attraktive, unberechenbare Lila rebelliert gegen Stefano, der sie demütigt und schlägt, die unscheinbare, strebsame Elena gegen Gleichgültigkeit, Armut und mangelnde Unterstützung. Die eine still und emsig, die andere ungezogen rasend – beide sind sie unglücklich, fremdbestimmt von Vätern, Brüdern, Freunden.

Die Männer regeln alles mit roher Gewalt

Elena Ferrante entwirft, präzise und sprachmächtig, ein großes Panorama des Lebens, mit reichen, authentischen Geschichten und schillernden Charakteren. Ihr Roman erinnert auf vielfache Weise an die russische und französische Literatur des 19. Jahrhunderts – etwa beim Thema Ehebruch an Tolstois „Anna Karenina“, Flauberts „Madame Bovary“. Mehr geht eigentlich nicht. Ferrantes Meisterwerk liefert ähnlich fesselnden Stoff wie DVD-Serien, bei denen man noch eine und noch eine Folge anschaut, auch wenn es schon nachts um halb zwei ist und man genau weiß, dass man dann am nächsten Tag müde wie ein Kleinkind sein wird und am liebsten auch genauso laut greinen möchte.

So viel ist klar: Diese Lektüre macht süchtig. Über Ferrantes Roman, 2012 in Italien erschienen und inzwischen ein Weltbestseller, schrieb der britische „Independent“: „Das beste Buch des vergangenen Jahres – oder überhaupt eines Jahres“. In den USA brach das „Ferrante-Fever“ aus. Und Frankreichs „Le Monde“ wusste: „Ferrante wirkt wie eine Droge.“ Das stimmt. Die Figuren werden lebendig beschrieben, die Familiendramen, die sich abspielen, mit präzisen Worten schildert.

Klassischer Bildungsroman

Hinter dem Pseudonym Ferrante, das im Herbst Aufsehen erregend und gegen den Willen der Autorin aufgedeckt wurde, verbirgt sich mutmaßlich die Übersetzerin Anita Raja. Für die literarische Qualität ist die Frage nach der Urheberschaft ganz egal. Erzählt wird nicht nur ein klassischer Bildungsroman. Sie entwirft ein Gesellschaftspanorama mit politischen Entwicklungen, Trennungen, Tod, Liebe und Leidenschaft, mit Lilas und Elenas gegensätzlichen Versuche, im Arbeiterviertel Neapels Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu erlangen.

Lila, die Hochbegabte, die nicht weiter zur Schule gehen darf, und Elena, die mit Disziplin Bestnoten schafft, auch wenn das in ihrer Familie niemand gutheißt. Auch die Clique, Söhne und Töchter von armen Großfamilien, will ihrem Milieu entkommen, alles anders machen im Leben. Doch die jungen Frauen müssen sich unterordnen, sie zicken sich an, werden schwanger, geben sich öden Träumen hin. Die Männer regeln alles mit roher Gewalt, lassen sich tumb hängen oder geben sich auf. Ehen und Kinder, Liebesaffären und Trennungen, Erfolge und Niederlagen, Mord und Wahnsinn – jeder hier versucht, wie in einem griechischen Drama, mit dem scheinbar vorbestimmten Schicksal mehr Hoheit über das eigene Leben auszuhandeln. Wir folgen dem ökonomischen Boom der 60er-Jahre, erleben das Auseinanderbrechen von Gewissheiten, nehmen teil an einem Sommerurlaub, der auf eine Katastrophe zuläuft, folgen Elena an die Uni und erleben mit, wie sie ihren ersten Roman schreibt. Wir diskutieren mit den Jugendlichen über Kommunismus und Kapitalismus. Wir lesen uns die Köpfe heiß.

Man versteht die Figuren

Ferrante setzt die Geschichten jedes Einzelnen, seine Nöte, Ängste und Verwicklungen dramaturgisch so gekonnt und literarisch so ergreifend in Szene, dass man die im Roman verdichteten Erfahrungen unweigerlich auf sich selbst bezieht. Auch wenn wir heute scheinbar so wenig mit dem archaisch geprägten Familien- und Geschlechterverhältnis der Figuren zu tun haben, verstehen wir allzu gut, wenn Elena sich fragt: „Alles im Leben stand auf der Kippe, reines Risiko, und wer kein Risiko einging, verkümmerte in einer Ecke, ohne mit dem Leben vertraut zu sein. Schlagartig wurde mir klar, warum ich Nino nicht bekommen hatte, warum Lila ihn bekommen hatte. Ich war nicht fähig, mich ernsthaft auf Gefühle einzulassen. Ich konnte mich nicht über Grenzen ziehen lassen. Sie nahm sich die Dinge, wollte sie wirklich haben, begeisterte sich und hatte keine Angst vor Verachtung, Gespött, Geifer, Prügeln.“

Lila ist klug, aber unsicher. Was hätte alles aus ihr werden können! Elena ist schüchtern und fragt sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte ihr Lila nicht als Spiegelbild gedient. Sie konkurrieren miteinander, finden aber immer wieder zusammen. Beide wollen ausbrechen. Lila versucht’s.

Prallvolle Lebensgeschichten

Welchen Preis zahlt man für Unabhängigkeit? Wie erlangt man Selbstbestimmung in einer Welt, in der alles seit Generationen vorbestimmt ist? Ferrante führt uns mit prallvollen Lebensgeschichten zu moralischen, kulturellen und individuellen Fragen. Welche Kenntnisse braucht man für ein gelungenes Leben? Intellektuelle, sexuelle, politische? Es wäre unfair, zu viel von der Geschichte zu verraten, die Karin Krieger großartig ins Deutsche übersetzt hat. Jeder sollte sie selbst lesen.