Hamburg. Der französische Bildermagier Philippe Quesne macht beim Sommerfestival mit seiner „Nacht der Maulwürfe“ tierisches Theater.

Allerlei fremdartige Wesen bevölkern das diesjährige Internationale Sommerfestival auf Kampnagel. Nach Handpuppen und Marionetten gesellen sich nun noch menschengroße Maulwürfe zu den Akteuren. Ein Exemplar spielte bereits in Philippe Quesnes letzter Arbeit, „Swamp Club“, eine Rolle. „Die Nacht der Maulwürfe“, das neue Stück des französischen Bildermagiers Quesne, könnte man insofern als eine Art Spin-Off betrachten. Sie feierte jetzt in der großen Kampnagelhalle Hamburger Premiere.

Quesne, von Haus aus bildender Künstler, Bühnenbildner und Leiter des anerkannten Théâtre Nanterre-Amandiers bei Paris, ist ein Meister der weitgehend wortlosen und hier auch handlungslosen Erzählkunst. Er ­beherrscht die Theatermagie, stellt sie mit einfachen Mitteln her, mit ­Gespür für Bilder und sanftem, aber treff­sicheren Humor. Meist fängt es harmlos an. Inmitten der mit „Welcome to Caveland“ überschriebenen, mit Plastikplanen verhängten, prähistorisch anmutenden Höhle steht eine mit Zeitungen vermüllte Bretterbude. Ein Hauch von Geisterbahn und Postapokalypse. Stille – und ein zittriges Licht.

Bühnenmagier und Philosoph

Von hinten bahnt sich eine Spitzhacke ihren Weg durch die Wand. Und bald rutschen sieben pelzige Erd­bewohner mit riesigen Händen, mal größer, mal kleiner, mit allerlei großem Gestein in den offenbar unterirdischen Raum. Nicht alle hält es dort, mancher bricht über ein Seitenloch wieder aus. Nebenan ist ja auch ein ver­lockendes Instrumentarium aufgebaut, das im Laufe des Abends mehrfach von einer ziemlich kompetenten Maulwurfsband bespielt wird. Das „Ne Me Quitte Pas“ Jacques Brels ertönt da als elegantes Noise-Cover, als sich die Gemeinschaft von einem verendeten Tier trennen muss, das spektakulär in den Bühnenhimmel ­gehievt wird.

Höhepunkte der kommenden Festivalwoche

Philippe Quesne ist nicht nur ein Bildererfinder, der Ereignisse auf Miniaturformate herunterbricht und große Gesten wunderbar ironisch unterläuft, er ist auch ein Bühnenphilosoph. Und deshalb dekliniert der Abend das Sterben einmal durch, aber auch das Leben, das Essen, Schlafen, Kopulieren, das Kleine-Maulwürfe-in-die-Welt-Setzen, die Kunst, die Politik – ­also anhand dieser liebenswürdigen Maulwurfskolonie die ganze Palette des Daseins. Wer wollte, konnte die Fellwesen übrigens am Vortag ­sogar beim Elbphilharmonie-Besuch beobachten.

Tiere auf der Bühne ziehen immer

Tiere auf der Bühne ziehen grundsätzlich immer. Sie saugen Aufmerksamkeit, berühren wie in diesem Falle mit ihren clownesken, unförmigen Ausmaßen und auch mit der vermuteten Höchstleistung der darin befindlichen Performer. Und was die hier alles leisten müssen: Musizieren, mit dem Roller Tropfsteine durch die Gegend fahren, eine hölzerne ­Anrichte unfallfrei herunterrutschen und gigantische Regenwurmknäuel auseinanderfädeln. Meist grummeln die Maulwürfe dazu in Lautsprache schwer Dechiffrierbares in ihr Fell. Aber wer braucht schon Sprache, wenn er diese schönen Theaterbilder hat?

Am Schluss werden die noch einmal gewaltig, und die Nebelkanonen schießen aus allen Rohren. Projektionen von Flüssigkeiten, Maulwurfsschatten, schließlich einer Familie in einer Holzhütte erscheinen. Natürlich denkt man sogleich an Platons berühmtes Höhlengleichnis.

Vieles ist meisterhafte Improvisation

Philippe Quesne hat seine Fabel nur in Grundzügen angelegt, vieles ist meisterhafte Improvisation. Und es ist ihm trotz allem ein wunderbar vielschichtiger Abend gelungen, in dem es unendlich viel zu entdecken und bestaunen gibt. Am Wochenende (jeweils um 16 Uhr) ist die Maulwurfsshow in verkürzter Variante für Kinder ab sechs Jahren zu sehen. Für die Ideen Platons ist man bekanntlich nie zu jung.

Schnell vergessen ist da die zuvor gesehene bislang schwächste Festivalproduktion. Die Britin Annie Dorsen hat für „The Great Outdoors“ eine aufblasbare Kapsel kreiert, die der ­Zuschauer durch eine Schleuse betritt. Vor schönen, wechselnden Sternenbildern, Blumenfeldern und Erdansichten lauscht er einem per Algorithmus ausgewähltem Kommentartext. Irgendwie hat man ja geahnt, dass da täglich eine ungeheure Banalität ins Netz gespült wird. In „The Great Outdoors“ erhält man die Bestätigung. Das macht das Hörerlebnis leider nicht aufregender oder tiefschürfender.

Wie gut, dass es neben diesem wortreichen Nichts zum Glück auch die Kunst gibt, die ganz ohne Worte Gehaltvolles erzählt.