Hamburg. Ein Ausblick auf die erste vollständige Spielzeit der Elbphilharmonie und ihre anstehenden Herausforderungen und Chancen.

Wofür andere Spielstätten mindestens Jahre, wenn nicht mehr, benötigen, das hat Hamburgs neues Wahrzeichen in nur einer halben Saison geschafft: Die Elbphilharmonie hat die Hafen- und Handelsstadt als Musikstadt auf die Weltkarte gebracht. Dort ist sie jetzt also bestens sichtbar. Dort soll sie sich von nun an beweisen. So war der Plan, so ist es seit dem 11. Januar 2017 passiert, im atemraubenden Zeitraffertempo. Musik als Wesenskern der Elbphilharmonie ist seitdem ein Prestige-Thema, das geht nicht mehr weg. Man spricht darüber, man will mitreden. Kultur lernen und dazulernen wollen, ­daraus ergeben sich auch komplexe gesellschaftspolitische Fragen. Die Elbphilharmonie soll schließlich mehr sein als eine fotogene Ton-Halle für Selfie-Salven, mehr als ein Opus-Museum mit toller Akustik zur wohlfeilen Verabreichung klassischer Meisterwerke.

Schall-Welle am Elbufer

Diese Schall-Welle am Elbufer ist schneller weltbekannt geworden als in kühnsten kulturpolitischen Träumen erhofft. Besuchte man in diesem Sommer Festspielklassiker wie Bayreuth oder Salzburg, war die Reaktion auf das Thema Hamburg anders als im letzten Jahr und komplett anders als im Jahrzehnt davor. In den Musikstädten Berlin oder München wird diskutiert, was Hamburg letztlich richtig gemacht hat; es wird nicht mehr ­belächelt, wie viel in die Hose ging. Der ­alte Mediziner-Kalenderspruch eben: Wer heilt, hat recht.

Für diese Konzerte im Großen Saal gibt es Karten

Vom klassischen Normalbetrieb ­anderer Säle – ausdenken, einladen, ­abspielen – ist die Elbphilharmonie ­allerdings nach wie vor weit entfernt. ­Momentan herrscht höchstens Ruhe vor dem nächsten Besucheransturm. Nach gerade mal einer Handvoll Wochen Sommerpause, unterbrochen von einigen Miet-Konzerten und Optimierungsarbeiten, geht der Wahnsinn in die nächste Runde. Die Drei-Millionen-Marke bei den Plaza-Besuchern wurde gerade überschritten. Willkommen in der Eiffelturm-Liga.

Klassik-Neulinge von Euphorie überrascht

Feuilletonisten vieler Länder haben Hamburg jetzt ernsthaft auf ihrem ­Themenradar. Nun geht es darum, diese Dynamik nachhaltig zu nutzen, sie zum Nutzen der Kulturmetropole zu verstetigen, auch wenn die Anfangshysterie der Kartensuchenden abklingen wird, früher oder später. Hoffentlich später. Dass sich als Massentourismusdestination mit einem als elitär beschimpf­baren Hochkulturbau ganzjährig prima verdienen lässt, ist ein erstklassiger Kollateralnutzen. An ihn haben in der herzkühl rechnenden Kaufmannsstadt manche noch weniger geglaubt als an die Überzeugungs- und Begeisterungskraft von Musik, quer durch alle Bevölkerungsschichten. Viele Klassik-Neulinge wurden von ihrer Euphorie überrascht, die Einstiegsdrogen wirkten.

Veränderungen im Personal-Ensemble

Vor wie hinter den Elbphilharmonie-Kulissen gab es Veränderungen im Personal-Ensemble. Die spektakulärste: Das Handtuch von NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock wurde vorzeitig geworfen. Von wem, wie und warum, blieb hinter einer Nebelwand aus Pressemeldungen über den alten und den neuen Maestro verborgen. Die beachtlichen Verdienste des Publikumslieblings Hengelbrock in den letzten Jahren, seine harte, mitunter schmerzhafte Niveau-Aufbauarbeit mit dem selbst­bewusst auftretenden Elbphilharmonie-Residenzorchester (und manchmal wohl auch dagegen) – all das endete jäh. Mehr ging so und dort und in der ­gewährten Zeit offenbar nicht.

Hengelbrocks Veränderungseifer

Der New Yorker Alan Gilbert, elf Jahre lang erster NDR-Gastdirigent, soll von 2019 an weitermachen, wo Hengelbrocks Veränderungseifer an Grenzen stößt. Die Aufschwung-Verantwortung wird für Gilbert nicht kleiner werden. Nach dem Wechsel der NDR-Klangkörpermanagerin Andrea Zietzsch­mann in die Intendanz der Berliner Philharmoniker bleibt die Langzeit-Aufgabe, das NDR-Orchester im nationalen und internationalen Vergleich besser dastehen zu lassen. Dass ausgerechnet die populären „Konzerte für Hamburg“ Mangelware sind, ist bedauerlich. Der NDR-Konzertkalender für 2017/18 ist auch ohne sie prall gefüllt. Nun soll, noch mit Hengelbrock am Ruder, aus der Masse noch mehr Klasse werden.

Gut abgehangene Lorbeeren

Weil Konkurrenz das Geschäft ­belebt, wird sich Generalmusikdirektor Kent Nagano in Hamburg nicht auf gut abgehangenen Lorbeeren früherer Prestigeposten ausruhen. Mag der NDR auch „das“ Orchester der Elbphilharmonie sein – die Philharmoniker wollen „das“ Orchester der Stadt sein und mit fast 190 Jahren Tradition im Lebenslauf ihren Teil zur Aufbruchstimmung beitragen. Dafür setzt Nagano vor allem auf die großen Klassiker, auf so sichere, schwere Nummern wie Haydn, Schubert, Schumann, Mozart.

Einen tragischen Umbruch müssen die Symphoniker verkraften. Der Tod ihres ungemein beliebten Chefdirigenten Sir Jeffrey Tate warf sie als Kollektiv aus der Bahn. Wer auch immer die Nachfolge antritt, muss die ehrenvolle Aufgabe der Laeiszhallen-Charakterformung ernst nehmen, um dafür zu sorgen, dass sie weiterhin als zweite erste Adresse wahrgenommen wird. Das ­erfreulich gestiegene Interesse am Altbau – wohl nur teilweise Notwehr wegen der nahezu dauerausverkauften Elbphilharmonie – hat bewiesen, dass das tatsächlich möglich ist. Wenn sich von nun an verstärkt, dass mehr und mehr Klassik-Neugierige auch in Konzerte ­gehen, ­obwohl sie nicht im HafenCity-Neubau stattfinden, wäre das nächste Musikstadt-Etappenziel erreicht.

Plattenfirmen verdrängten Hamburg gern

Generalintendant Christoph Lieben-Seutter hat unterdessen fast nur Luxusprobleme: Viel mehr Interessenten als Karten, mehr Möglichkeiten als freie Saal-Termine, mehr Sponsoring-Anwärter als Ehrenkarten-Kontingente. Einige Inspirationen und Programme liefern, wie in der Branche üblich, andere ­Adressen, beispielsweise die Salzburger Festspiele, deren aktueller Avantgarde-Schwerpunkt mit der Musik des Franzosen Gérard Grisey im Winter an der ­Elbe ein Nachspiel hat. Die „Echo Klassik“-Gala, Branchenthermometer für Verkaufserfolge, geht 2017 nicht mehr im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt über die Bühne, sondern an der Elbe. In den vorelbphilharmonischen Jahren hatten einige der nach Berlin abgewanderten Klassik-Plattenfirmen hartnäckig und gern verdrängt, dass es Hamburg überhaupt gibt und dass dort ihre Wiegen standen.

Antiquitäten-Wiederbelebungen

Abzuwarten bleibt, wie die Angebotsausweitung bei jenen Genres funktioniert, für die der Große Saal nicht ­gebaut wurde. Lesungen mit Star-Autoren in einem Konzertsaal? Kann man machen, kann aber auch bemüht wirken. Antiquitäten-Wiederbelebungen mit den Electronica-Senioren von Tangerine Dream oder die Ausgrabung von Achim Reichels frühem Krautrock-Ge­gniedel? Kann man so nur in der Elbphilharmonie bringen, weil sich der Aufwand dort rechnet und die mitgealterten Fans von früher sich diese Retro-Events leisten möchten – und können.

Die beginnende Saison wird die erste sein, in der die Elbphilharmonie programmatisch einlösen soll, was sie vor dem mehrmonatigen Eröffnungstrubel architektonisch versprach und seitdem akustisch bietet: Weltklasse. Einmaligkeit. Visionäre Kraft und Spaß am virtuos inszenierten Risikoformat Konzert. Das Wachsen an den Herausforderungen hat gerade erst begonnen.

TV-Tipp: Auf National Geographic hat am 19.8, 21 Uhr, die Doku „Die Elbphilharmonie“ Premiere. Sie ist danach auch über Sky Go,
Sky On Demand und mit Sky Ticket verfügbar.