Hamburg. Heute wäre der Schriftsteller 100 Jahre alt geworden. Eine Konferenz erinnert an den bedeutenden Autor.

Er kam in den 50er-Jahren quasi durch die Hintertür in die deutsche Nachkriegsliteratur. „Lieblose Legenden“ nannte Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) die Sammlung der satirisch-absurden Kurzgeschichten, die er zum Teil in Zeitungen erstveröffentlichte und in denen er vorzugsweise über den Kulturbetrieb spottete, über Dichter, die im Telefonbuch lesen („Gregor Rutz und der Existenzialismus“), über die Schwierigkeit, als Autor das passende Thema zu finden („Ich schreibe kein Buch über Kafka“), über das Klischee vom nicht endenden „Atelierfest“ oder das Unwesen, Orte durch Festspiele aufzuwerten („Weyerswyl als Symptom“).

26 dieser Geschichten hat Hildesheimer von 1950 bis 1962 veröffentlicht. Kein großes Pensum, aber der Grundstein dafür, dass der hervorragende Stilist zu einer der interessantesten Stimmen der deutschen Literatur wurde. Im Gegensatz zur Wertschätzung bis in die 80er-Jahre hinein steht das rasche Vergessen eines Werks, das sich für Mainstream-Rezeption nicht eignet.

Freude an der Verdrehung

Anlass zur Wiederentdeckung ist Hildesheimers 100. Geburtstag am 9. Dezember. Der Suhrkamp Verlag, der ihm mit aufwendigen Ausgaben bis heute die Treue hält, hat Hildesheimers Briefe an seine Eltern von Volker Jehle, dem besten Hildesheimer-Kenner, herausgeben lassen („Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“). Und in Hamburg, wo Hildesheimer geboren wurde, erinnert die Freie Akademie mit einer wissenschaftlichen Konferenz am 9. und 10. Dezember an ihn.

Dass Hildesheimer einen neuen Ton in die deutsche Literatur brachte, die im Nationalsozialismus von vielen Entwicklungen abgeschnitten war, das deutete sich bereits in den „Lieblosen Legenden“ an. Neu war zum Beispiel britischer Witz, die Freude an der Verdrehung: Im „Gastspiel des Versicherungsagenten“ etwa, wo ein Konzertpianist darunter leidet, dass er seine eigentliche Leidenschaft, den Verkauf von Versicherungen, nicht ausleben durfte.

In „1956 – ein Pilzjahr“ berichtet Hildesheimer von einem Mann, der kein Schöpfer, sondern ein Genie der Unterlassung gewesen sei, dessen Verdienst also darin bestehe, dass er der Nachwelt unnötige künstlerisch gemeinte Werke erspart habe.

Origineller Virtuose der kleinen Form

Dass Hildesheimer einen anderen Bildungs- und Erfahrungshintergrund als das Gros der Autoren hatte, die zu den Schriftstellertreffen der Gruppe 47 eingeladen wurden, war offensichtlich. Seine jüdische Familie war 1936 nach England geflüchtet und siedelte später nach Palästina um. Wolfgang Hildesheimer kam als Simultanübersetzer bei den Nürnberger Prozessen zurück und blieb bis 1957. Danach lebte er in Italien, später im Schweizer Kanton Graubünden.

Er war eine singuläre Erscheinung in der deutschen Nachkriegsliteratur, ein origineller Virtuose der kleinen Form. Es überrascht, dass seine „Gesammelten Werke“ dennoch stattliche sieben Bände umfassen. Doch Hildesheimer war auf so vielen Feldern aktiv, dass sein Werk unübersichtlich erscheint. Er schrieb Prosa, Theaterstücke, Hörspiele, Essays, Gedichte, Texte über Musik, Rezensionen und andere Zeitungsbeiträge. Er übersetzte – unter anderem James Joyce und Djuna Barnes – und last but not least arbeitete er als bildender Künstler.

Wolfgang Hildesheimer:
„Die
sichtbare Wirklichkeit
bedeutet
mir nichts“
Suhrkamp, 1584
Seiten, 78 Euro
Wolfgang Hildesheimer: „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“ Suhrkamp, 1584 Seiten, 78 Euro © HA | suhrkamp

Hauptwerk sind vier längere Texte, von denen keiner als Roman gilt. Da ist zum einen die episodenhafte monologische Prosa von „Tynset“ (1965) und „Masante“ (1973), deren Aufbau musikalischen Formen wie Rondo und Fuge folgt. Zentrales Motiv in „Tynset“ ist der Schrecken des Nazi-Terrors, unter der deutschen Oberfläche noch immer gegenwärtig.

Oft resignativer Unterton

Auch die beiden anderen Hauptwerke stehen im inneren Zusammenhang: die psychologisch deutende „Mozart“-Biografie (1977) und die fiktive Biografie „Marbot“ (1981). In beiden Spätwerken ist der Autor dem 18. und frühen 19. Jahrhundert näher als seiner Gegenwart.

Danach folgten nur noch kürzere, zuweilen bruchstückhafte Texte mit oft resignativem Unterton wie die „Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge“ (1983, an den Freund Max Frisch), bevor sein Kulturpessimismus so stark wurde, dass er das Schreiben einstellte. In seinen letzten Lebensjahren konzentrierte sich Hildesheimer auf die Arbeit an verrätselten Collagen, die er in drei Bänden herausbrachte. Bezeichnender Titel des ersten dieser Bücher: „Endlich allein“.