Hamburg/Osnabrück. Frank Schulz hat nach mehr als 40 Jahren seine Heimatstadt Hamburg verlassen. Über den Neustart des Schriftstellers in Osnabrück.
Von der Haltestelle Osnabrück-Altstadt muss man nur ein paar Meter laufen, dann ist man bei Frank Schulz. Den Erich-Maria-Remarque-Ring kreuzen, scharf rechts. Man läuft über Kopfsteinpflaster und eine Hofeinfahrt, dann ist man auf dem Gelände der früheren Zigarrenfabrik. Ein Backsteingebäude; an der Tür, die in die Wohnung von Frank Schulz führt, hängt eine Illustration. Sie zeigt einen Gorilla mit Lämmlein und stammt von dem Künstler, der die Cover der letzten Bücher des Schriftstellers Schulz gestaltet hat.
Dieser Schriftsteller hat 40 Jahre in Hamburg gelebt und ist jetzt nach Osnabrück gezogen. Alle seine Bücher haben mit Hamburg zu tun, er ist dort verwurzelt, privat, in der Literaturszene. Hamburg hat ihn zu den tragikomischen Großstadthelden, zu den Kneipenfrequentierern und schusseligen Privatdetektiven inspiriert, die Leser seit 20 Jahren in ihr Herz geschlossen haben.
Kann man da einfach die Stadt verlassen? Und warum muss das sein? Das wäre zu klären. Ein Hausbesuch bei Frank Schulz, dem „Onno Viets“-Erfinder und Heimatdichter aus Überzeugung, dem Mann mit dem weisen Vollbart, dem zotteligen Resthaar und dem Gespür für die literarische Pointe.
Schulz’ Wohnung sieht nach Gelehrsamkeit aus
Seine Wohnung sieht nach Gelehrsamkeit aus. Und nach studentischer Selbstbescheidung, nach Junggesellenherrlichkeit. Auf dem Sofatisch liegt aufgeschlagen der erste Elena-Ferrante-Band, in den Bücher-strotzenden Regalen stehen auch „Die Sopranos“-DVDs und Fotos: Sie zeigen eine ältere Frau (sicher seine Mutter, denkt man) und eine jüngere (sicher seine Nichte, denkt man). Ein Schlafzimmer sucht man vergeblich.
Geschlafen wird in einer anderen Wohnung, aber im selben Haus. „Meine Freundin wohnt auch hier“, sagt Frank Schulz. Womit man dann hier auch schon mitten in einem Gespräch über die Literatur, den Erfolg, die Gesundheit, die Familie und den Neuanfang ist. Es geht um Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, also das, um was es eigentlich immer geht.
Um Veränderung.
Um das Leben als Verlust- und Gewinnrechnung: Welchen Preis man für einen Wandel bezahlen muss und über das, was man dafür bekommt.
Osnabrück also. Es dauert nicht lange, und Schulz nimmt das Wort „Exil“ in den Mund, er tut es, wenn nicht alles täuscht, ironisch und ernst zugleich. Denn verbannt worden aus Hamburg ist er nicht, es war die Liebe, die ihn fortzog. Und ein wenig aber eben auch die Macht des Numerischen, denn es ist eben auch billiger, in Osnabrück als in Eimsbüttel zu leben.
Jahrzehntelang in Hamburg
Selbst bei einem am Markt schon länger durchgesetzten Schriftsteller wie Schulz muss man zu einem gewissen Grad von einer prekären Existenzform sprechen; Schulz ist ein Mensch, der nicht lamentiert, sondern abgeklärt über die Voraussetzungen und Unwägbarkeiten seines Jobs spricht. Es hat sich dann jedoch auch bald damit, denn Geld ist als Gesprächsstoff schnell zu gewöhnlich und fad und jedenfalls kein Thema, bei dem man lange verweilt. Die Liebe ist ein romantischeres Motiv, und sie tröstet wohl auch über das Heimweh hinweg: Für Osnabrück, die Heimat seiner Lebensgefährtin, für die geografische Veränderung war also der Hauptgrund: das Streben des Herzens.
Jahrzehntelang hat Schulz, der in Stade zur Schule ging und einst nach Hamburg kam, um eine Kaufmannslehre zu machen, in der Hansestadt gelebt. Das streift man nicht einfach so ab. Natürlich, sagt Frank Schulz, „fange ich jetzt nach meinen ersten Monaten im neuen Ort an, Hamburg zu vermissen“.
Er verließ seinen Freundeskreis, als er nach Osnabrück zog, eine Stadt, über die er im Übrigen nichts Negatives sagen möchte. Er fühle sich wohl, „fremd und einsam war ich jedenfalls nicht, ich kannte ja die Freunde meiner Partnerin, als ich herzog, und der direkte Umkreis um die Wohnung hat seinen Charme“.
Trauer um verstorbene Mutter
Es sind aber halt die Hamburger Sichtachsen, die ihm nun fehlen, der Blick auf die Alster. So ist das, wenn man städtebaulich verwöhnt ist. Und weil Schulz, wie gesagt, das noch sehr Neue nicht an den mächtigen Cliffs des Alten zerschellen lassen will, sagt er noch, wie gern er früher schon in Osnabrück gelesen habe. Im neuen Zuhause arbeitet Schulz nun an Erzählungen. Sie werden, sagt Schulz, weiterhin in Hamburg spielen, „ich bin aber auch gespannt, wie die neuen Eindrücke in mein Schreiben einsickern – durch den Umzug kann ich nun vielleicht in völlig neue Rollen schlüpfen“.
Die alten Inspirationen sind in die Ferne gerückt; sie lassen nun Platz für andere Einflüsse. In der Kunst ist Veränderung ein Motor des kreativen Prozesses. Im Privaten ist sie eine Notwendigkeit, die am Existenziellen rührt. Beiläufig erzählt Schulz, der begnadete Autor von „Kolks blonde Bräute“ und einer Kult gewordenen Säufer-Trilogie, dass es fast auf den Tag 15 Jahre her ist, dass er dem Alkohol ganz abschwor.
Diesmal ist der Schritt ab des Weges, den er so lange gegangen ist, in vielerlei Hinsicht eine Art Befreiung. Schulz ist vorsichtig in dem, was er über seine aktuelle Existenz als aus Hamburg Verzogener sagt („Ich bin noch dabei herauszufinden, was dies alles bedeutet“), aber er empfindet doch recht deutlich, dass viel zusammenkam im vergangenen Herbst, in seinen letzten Monaten in Hamburg. Schulz trug noch schwer an der Trauer um seine 2015 gestorbene Mutter, als ausgerechnet am ersten Todestag sein Verleger anrief und ihn auf eine am nächsten Tag veröffentlichte Kritikerschelte hinwies: Da kommt etwas. Und was da kam anlässlich des dritten Viets-Bands („Onno Viets und der weiße Hirsch“), der dritten Geschichte um jenen verschrobenen, Tischtennis spielenden und vom allerersten Sherlock-Einsatz traumatisierten Amateur-Detektiv: ein Totalverriss in einer großen Zeitung – und zwar praktisch seines gesamten Werks.
Das Schicksal des Großvaters, das Trauma des Vaters
„Ich dachte, mich tritt ein Pferd“, sagt Schulz. Und schaut so, wie jemand schaut, der immer noch empört ist. Schmerz und Verärgerung sind Zustände, die lange anhalten, wenn man Autor ist. Berufsrisiko.
Er habe, erklärt Schulz, auch gerade weil ihm die Kritik bisher sehr gewogen war, immer befürchtet, „dass irgendwann mal einer zulangt“. Und doch schützt Zweckfurcht vor dem Hieb nicht, der zur Wunde wird. Zur Kritik – „Schlimmer Heimat- und Einfache-Leute-Kitsch“ war da zu lesen und Ärgeres, oft Unfaires – gesellte sich später die Ratlosigkeit, was die Verkaufszahlen angeht. Der dritte und nach dem Willen des Schöpfers auch letzte Roman der Onno-Reihe, die mal als Krimi-Ausflug geplant war und dann recht schnell Genre-Grenzen überwand (Schulz: „Reine Krimi-Handlungen hätten mich gelangweilt“), kostete ihn viel Mühe, verkaufte sich aber deutlich weniger als die Vorgänger. Für Schulz besonders enttäuschend war, dass er der Handlung einen historischen Unterboden gab: Ein durchaus anspruchsvolles Manöver, aber die Kriegs- und Fluchtvergangenheit von Onnos Schwiegervater verfing beim Leser augenscheinlich nicht.
Ein beruflicher Störfall, den die meisten Autoren – die Suters und Grishams sind die Ausnahme – kennen. Gleichzeitig kam der gesundheitliche Störfall. Kurz vor der Frankfurter Buchmesse musste Schulz ins Krankenhaus. Ein „Mini-Schlaganfall“, wie er es nennt. In seiner „Titanic“-Kolumne „Szenen in Beige. Jungsenior Frank Schulz vertellt“ beschrieb er das Geschehen vom nächtlichen Funktionsausfall bis zur Wiederherstellung so: „Allerdings war der Weg zum Klo von extremer Schlagseite geprägt. ,Wie früher‘, dachte man noch. (...) Die MRT offenbarte einen leichten Infarkt im Kleinhirnschenkel links. Außer der ,Gangstörung mit starker Fallneigung‘ schien aber alles in Ordnung, und nach einer Woche konnte man wieder halbwegs allein geradeaus laufen.“ Es kann hilfreich sein, den Einschnitt mit launischer Selbstbeschreibung zu begleiten; Schulz geht es übrigens wieder bestens.
In Osnabrück kommt Schulz jetzt zur Ruhe
In Osnabrück, sagt Schulz, komme er jetzt zur Ruhe. Die Distanz hilft vielleicht, er ist ja immer noch mit der Vergangenheit seiner Sippe beschäftigt. Die Erzählungen, an denen er derzeit arbeitet, reichen bis zurück in die 50er-Jahre und sollen, so Schulz, „das Vergehen der Zeit reflektieren“. Er schreibe über den Tod der Mutter und über die Erlebnisse des Vaters, der einst als Elfjähriger aus den Ostgebieten nach Norddeutschland kam.
Es geht um das ganze Menschenleben, von der Jugend bis zum Tod; und es geht erneut, wie im letzten „Onno Viets“, um die große Fluchtbewegung im Jahr 1945. „Meinen geliebten Eltern gewidmet“ hat Schulz dem Buch vorangestellt. Er habe seine verstorbene Mutter innig geliebt, sagt er. Was den Vater angeht, über dessen Angepasstheit er sich als Jugendlicher mokierte („Da hat es richtig geknallt“) und dessen verstecktes Kriegstrauma der Familie lange verborgen blieb, gab es in den vergangenen Jahren eine unvermutete Aufhellung, ein Schatten wurde vertrieben.
Russische Behörden teilten in einer Rehabilitierungsbescheinigung dem Vater mit, wie sein eigener Vater 1945 im Osten zu Tode gekommen war: Er wurde von einem Militärgericht erschossen, nachdem ihn die Rote Armee aus seiner später zu Polen gehörenden Heimat deportiert hatte. Nach 67 Jahren erhielt der fast 80-Jährige endlich Aufschluss über das genaue Schicksal seines Vaters.
Die Lücke, die der Vater hinterließ, konnte so nachträglich nicht gefüllt werden, aber die Leere war nun weg oder zumindest eine andere. Frank Schulz, der Enkel des für Hitlers Kriegstreiben in Russland büßenden Gefangenen und dann Getöteten, sagt, dass auch er unter einer Art von Vaterlosigkeit gelitten habe: „Mein Vater war ein Hansdampf in allen Gassen und als Ostvertriebener permanent damit beschäftigt, sich eine neue Heimat zu schaffen.“
Der Plan: irgendwann nach Hamburg zurück
So dringen die Väter und Vorväter in die Leben der Söhne, obwohl jene paradoxerweise doch vor allem abwesend sind. Schulz hat das Schicksal seiner Familie literarisch aufgegriffen, und er hat mit seiner Lebensgefährtin, die beruflich als Psychologin arbeitet, viel über Dinge wie transgenerationelle Erfahrungen gesprochen. Vergangenheit, Zukunft: Was beschäftigt ihn derzeit mehr? „Das weiß ich selbst noch nicht“, sagt Schulz, ein Mann, der Pläne für mindestens drei neue Bücher hat, also weit nach vorne blickt – und andererseits erst vor Kurzem 60 geworden ist. Sein „letztes Lebensviertel“ sei angebrochen, sagt Schulz, „irgendwann möchte ich nach Hamburg zurück, und ich möchte, nachdem mein Arzt zunächst skeptisch war, wieder Tischtennis spielen, das sind so meine Eckpunkte“. Er lacht.
Irgendwann im Verlauf des Gesprächs weist er eher belustigt als ernst darauf hin, dass er sich am Ende nicht in einem Artikel, „wie er in der ,Bunten‘ stehen könnte“, wiederfinden wolle. Da hat er gerade von der schwierigsten Entscheidung seines Lebens gesprochen. Schulz verließ nach 30 gemeinsamen Jahren seine Frau, um mit seiner Lebensgefährtin zusammen zu sein. Die Trennung ist schon einige Zeit her und war der Beginn des Umbruchs, der mit dem Umzug nach Osnabrück so etwas wie einen ersten Abschluss gefunden haben könnte.
Seine neue Partnerin ist übrigens 22 Jahre jünger und das aber nur zufällig, dies sagt Schulz, der zwar manches Preis gibt, aber keineswegs ein Seelenexhibitionist ist, am Ende dann auch noch. Er erwähnt es nicht explizit, das mit dem Alter, würde es am liebsten gar nicht sagen, wer mag schon Klischees: die Ehefrau wegen einer Jüngeren verlassen. Es war in Wirklichkeit, wie immer, alles komplizierter. Kennengelernt hat er die Frau, wegen der er nach Osnabrück zog, weil sie eine Leserin seiner Bücher ist. Sie schrieb ihm eine Nachricht auf seiner Homepage.
Da ruft man ihm dann zum Abschluss zu: Was für eine Geschichte! Da sage noch einer, die Literatur bringe es nicht mehr.