Hamburg. Herzerwärmend: Eine Lange Nacht des Singens mit 34 Chören und Publikumsorchester im Großen Saal. Mitmach-Momente für die Ewigkeit.

Seit Langem nicht mehr so viele glückliche, beglückte Menschen aller Altersklassen gesehen wie während der letzten zwei Tage. Am Sonnabend, als erster Spielzeit-Absacker, war die Lange Nacht des Singens mit 34 Chören fast überall in der Elbphilharmonie, die erst kurz vor Mitternacht endete, der Auftakt; am Sonntagmorgen folgte die Premiere des Publikumsorchesters im Großen Saal.

Ausverkauft, noch vor der ersten Probe im Januar. Aus Imagebildungs-Perspektive sind solche Events natürlich genau das, was man am Ende einer Saison als Konzerthaus-Hausherr machen muss. Schon um die stolzen Freunde und Verwandten als Mundpropagandisten ins Prestige-Gebäude zu holen, das die Amateurensembles aus der ansonsten unerreichbaren Profi-Perspektive erleben durften. Doch die Berechnung, die dabei mitschwingen könnte, löste sich am Sonnabend bereits auf dem Vorplatz in Wohlgefallen auf, und Werbung benötigt die Elbphilharmonie ja auch nicht allzu dringend.

Schunkeln auf der Plaza

Auf dem Vorplatz also, elbuferwindumweht und unverdrossen froh, hörten etliche den engagierten Chören auf der Bühne zu, während sich parallel, etwa 40 Meter höher, auf der Plaza die „Swinging Colors“ mit „When The Saints“ in Ekstase gospelten und Chorleiterin Britta Dierks als Vollgas-Solistin ihre Aretha-Franklin-Momente hatte. Die ersten Mitglieder der HHLA-Boygroup „De Jungs von de Logerhus“ standen singbereit im Hintergrund. Rüstig frohgemute Shanty-Senioren mit Flaggen-Krawatte und Prinz-Heinrich-Mütze, stilsicher in marineblauen Goldknopf-Zweireihern. Die Gattinnen machten die Erinnerungsfotos und schunkelten die Menge warm, während die Gatten Hamburg, die Elbe oder
beides besangen. Mit der Zeile „An der Alster, an der Elbe, an der Bill“ ging die erste Post ab, spätestens beim „Hamburger Veermaster“ brachen dann alle Schunkel-Dämme auf der Plaza. Bei der Manöverkritik beim Herrengedeck wäre man gern dabei gewesen. Doch direkt danach sang auf der Bühne schon der Grundschul-Chor der Anton-Rée-Schule aus Allermöhe „Singen kann jeder“, ein tolles Erlebnis für jedes Kind.

Oberhalb der Freitreppe zum Foyer des Großen Saals wurde unterdessen eine musikhistorisch nicht ganz korrekte Unterrichtseinheit zum Thema Mehrchörigkeit abgehalten. Unentwegt gesungen wurde im Halbstundentakt im Foyer der 13. Etage neben dem großen Bartresen und im 15. Stock neben einem kleineren. Dass auch unterhalb des 11. Stocks im Kleinen Saal Chormusik passierte, blieb Hörensingen, die Schlange der vergeblich auf Einlass Hoffenden reichte bis ins Hauptfoyer. Dort nutzen viele die Zeit für Erinnerungsfotos und verpassten so unter anderem den A-cappella-Auftritt von „Sounddrops“ mit raffiniert arrangierten Beatles-Klassikern.

Herzerwärmend: Loch Lomond

Beim Spätschicht-Chorkonzert im Großen Saal machte Simon Halsey den Conferencier, jener Dirigent, der bei der Aufführung des Brahms-Requiems auf der Plaza-Baustelle anno 2012 das Sagen gehabt hatte. Nun war er Moderator, Iveta Apkalna unter anderem für Händels „Halleluja“ die Begleit-Organistin und das Publikum staunte sich von Chor-Leistung zu Chor-Leistung. Bei den Publikumslieblingen ganz vorn: das Cuori-Ensemble, nach einer herzerwärmenden Version von „Loch Lomond“.

Was spontan als Moment für die Ewigkeit in Erinnerung bleibt? Bestimmt dieser eine Proms-Moment Sonntagmittag im Orchesterkonzert, als rund 2000 Menschen rhythmisch zu Elgars „Pomp and Circumstance“ in den Knien wippten, als flösse reinster Fünf-Uhr-Tee durch ihre Adern, als sie mitsangen oder mitunter in der halbwegs richtigen Tonart pfiffen und sich genau deswegen freuten wie Bolle. Bevor es dazu kam, hatte das Freiwilligen-Tutti bereits Bernsteins „West Side Story“-Potpourri und Strawinskys anspruchsvolle „Pulcinella“-Suite sicher abgeliefert, gut koordiniert von Michael Petermann als wegweisender Dirigent.

Gemeinschaftsgefühl

Diese anderen Momente werden ebenfalls bleiben: als am Vorabend rund 2000 Menschen das Tüdelband-Lied und „In Hamburg sagt man Tschüss“ sangen, schunkelten und sich nicht mehr einkriegten vor Begeisterung, garniert mit einer gänzlich unironischen Portion Lokalpatriotismus.

Diese Momente, genau diese anrührenden Momente der kleinen Freuden gab es dort so bislang nicht, genau für diese spezielle Art Gemeinschaftsgefühl ist die Elbphilharmonie gebaut worden. Wer danach nach wie vor ausschließlich über Baukosten reden möchte und die Auswirkungen auf den Gefühlshaushalt ignoriert, dem ist nicht mehr zu helfen.

In solchen Momenten ist auch egal, ob irgendwann in den letzten Monaten eine Horngruppe einen Einsatz um ein Sechszehntel verpasst hat oder ob dieser oder jener Durchreise-Maestro keinen guten Tag hatte. Und dann war da noch, so etwas kann man sich nicht ausdenken, die Szene mit einer Platzanweiserin im Parkett, die einem Ehepaar in der Nebenreihe über ihren täglichen Umgang mit Publikum und Musik strahlend berichtete: „Man geht nach Hause und ist erfreut. Das fühlt sich nicht nach Arbeit an.“