Hamburg. Für den ersten Auftritt der Staatskapelle Berlin in der Elbphilharmonie kombinierte Daniel Barenboim Werke von Wagner und Bruckner.
Auch wenn Angela Merkel für das G20-Konzert nächste Woche Beethovens Neunte bestellt hat – Prestige-Gäste aus Berlin bevorzugen für spezielle Auftritte im neuen Wahrzeichen an der Elbe offenbar Bruckner. Macht mit seinen größeren Besetzungen mehr her, fordert mehr langen Atem, auch bei den Streichern, ganz andere Selbstdisziplin und kollektive Pulskontrolle, noch mehr Konzentration auf Wesentliches und Vergeistigtes.
Nachdem Sir Simon Rattle beim ersten Elbphilharmonie-Konzert der Berliner Philharmoniker vor einigen Wochen die Achte beeindruckend klarkantig dirigierte, hatte sich der Staatskapellen-Kollege Daniel Barenboim die Neunte für den Kurzabstecher zurechtgelegt. Verständlich von beiden, denn beide Spätwerke bieten genau jene epische Klang-Auslegeware, aus dem große Musikerlebnisse im Großen Saal gestaltet sein könnten.
In dieser Musik ist kein Verhandlungsspielraum
Womöglich auch zur geistesverwandten Abrundung der unvollständig gebliebenen Neunten, der ihr Schlusssatz fehlt, hatte Barenboim zudem Wagners „Tristan“-Vorspiel an den Anfang des kurzen Abends gestellt – der metaphysisch lodernde Meister und einer seiner glühendsten Bewunderer, in einem Programm, nur durch Applaus getrennt, treulich vereint, das hatte was.
Genug für eine wirklich langanhaltende Begeisterung über das Gehörte hatte es am Ende allerdings nicht, obwohl die tiefgehende, tiefschürfende innere Verbundenheit dieses Orchesters mit seinem Lebenszeit-Chefdirigenten Barenboim derart unüberhörbar wirkt und prägt. Und obwohl die Spielkultur der Staatskapelle – abgesehen von einigen schwächelnden Reaktionsmomenten im Holz – auch in einem für sie neuen Saal ihre Wirkung nicht verfehlte.
Barenboim weiß, wie man Spannung erzeugt
Bei Wagners „Tristan“-Auftakt jedenfalls, da war noch alles fein und edel und wie aus fingerdickem Samt geformt. Da war diese gemeinsame Wellenlänge ein grundsolides Fundament, auf dem er das Stück aufbauen konnte. Aus dem heraus es mit höchstdramatischer Leidenslust aufblühen konnte. Und wenn jemand weiß, wie man mit Wagners Musik Spannung erzeugt, bevor noch der erste Ton gesungen wird, und sie beim Fortschreiten ins bittere Ende hält, dann Barenboim.
Sein enormer Erfahrungsvorteil, mit dem man auch und gerade auf den weltverlorenen Hochebenen des Symphonie-Architekten Bruckner sehr weit kommt: Geduld. Gelassenheit. Das Prinzip: „Spielen wir mal, dann sehen wir schon.“ Nicht auf den nächsten vermeintlich hineinkomponierten Höhepunkt schielen wollen oder allzu frontal zusteuern, als wäre es der letzte; bloß nicht im falschen Moment unruhig oder gar plump hektisch werden. In Hemingways Romanen hieß das stets „grace under pressure“, Anmut unter Druck. Endete meistens nicht gut für den Protagonisten, war aber immer ein existenzielles Erlebnis, weil es etwas wagte, mit ungewissem Ausgang.
Alles in allem: kein im klassischen Sinne schlechtes Konzert
Woran es lag, dass diese Bruckner Neun, mit diesem Dirigenten und Orchester, an diesem Abend hinter der Erwartung zurückblieb? An ihrer dann doch etwas pauschal wirkenden Selbstsicherheit, mit der Barenboim seine Routine auf hohem Niveau vorführte. Autopilot de luxe am Ende einer langen Konzertspielzeit, das war der bis zum Schluss vorherrschende Modus des Maestros, verbunden mit einer Phrasierungsästhetik, die die scharfen Brüche und die aufreißenden Abgründe zu sehr scheute.
Die grobmotorisch mahlende Maschine im Scherzo, deren derber Rhythmus jede Hoffnung zu zerstampfen hat, war eine dafür besonders typische Phrase, die Barenboim noch ziemlich barmherzig anging. Doch in dieser Musik ist kein bisschen Verhandlungsspielraum mit dem Schicksal mehr vorgesehen. Dass Barenboim Anfang Mai bereits seine erste Begegnung mit der Elbphilharmonie-Akustik hatte (damals mit dem West-Eastern Divan Orchestra), erwies sich als ungemein praktisch für den Folgeauftritt.
Mit nur kleinen Justierungsgesten hielt er die Dynamik des massiven Klangkörpers im Griff, justierte die elegante Schönheit der Themenblöcke immer wieder nur sanft und dezent nach. Fast wünschte man sich am Ende, Barenboim hätte die Blechbläser öfter von der Kette gelassen, um die Extreme Bruckners in ihrer Überwältigungsabsicht mächtiger zu entfalten. Denn der Saal selbst transportierte ja nur, was in ihm passierte, ohne es aufbauschend zu verstärken. So blieb es bei Wohlgefallen. Alles in allem: kein im klassischen Sinne schlechtes Konzert, das nun wirklich nicht. Doch auch – bei aller Freude über diesen seltenen Orchester-Besuch – keines, das die eigenen Möglichkeiten bis zum Anschlag ausgespielt hätte.