Hamburg. Christian Seeler, seit 22 Jahren Intendant des Ohnsorg-Theaters, feiert Abschied. Ein Gespräch über Wehmut, Zeitgeist und Allüren.

Reihe 7, Platz 1 und 2. Das waren die Stammplätze des Ohnsorg-Intendanten Christian Seeler und seiner Frau Bärbel. 35 Jahre lang war Seeler der berühmtesten niederdeutschen Bühne verbunden. Nun tritt er ab, ein Afscheed, den er seit drei Jahren vorbereitet hat, und überlässt seinem Nachfolger Michael Lang – dem bisherigen Intendanten der Komödie Winterhuder Fährhaus – das Feld.

Seeler wird sein eigenes Tourneetheater weiter betreiben und weiterhin die Tourneen des Ohnsorg-Theaters betreuen, jedes Jahr zwischen 30 und 60 Vorstellungen. Er plant Beratungstätigkeiten für ein neues Zelttheater in Bonn, bucht Vorstellungen in Norderstedt, baut noch ein Haus. „Die nächsten zwei Jahre sind gut gefüllt“, sagt Seeler – und spricht über Wehmut, die Herausforderungen der Privattheaterszene in Hamburg und natürlich über Heidi Kabel.

Allens hett sien Tiet. Sie waren fast 35 Jahre am Ohnsorg-Theater, davon 22 als Intendant. Am Dienstag feiern Sie Abschied. Wie stehen Sie zu Sentimentalitäten?

Christian Seeler: Sentimental bin ich eigentlich nicht. Aber zum Abschied denke ich natürlich über vieles nach. Im Grunde habe ich mein ganzes beruf­liches Leben am Ohnsorg-Theater verbracht. 1982 habe ich angefangen – und 1982 habe ich auch meine Frau kennengelernt. Das Ohnsorg war also immer wie ein Familienmitglied, wie unser ältestes Kind. Das ist einfach so, mit dem Theater ist man rund um die Uhr beschäftigt. Aber ich weiß nun seit drei Jahren, dass ich aufhören möchte und konnte mich gut an den Gedanken gewöhnen. Und ich liebe Veränderungen ...

... sagt der Mann, der treu seit Jahrzehnten am selben Theater arbeitet und Hamburgs dienstältester Privattheaterintendant ist ...

Christian Seeler: Ja, aber jede Inszenierung ist ja etwas Neues. Wenn man Theater entwickelt, hat das viel mit Veränderungsbereitschaft zu tun. Ich freue mich, jetzt freiberuflich zu arbeiten, das ist ein gutes Gefühl. Natürlich werden mir die liebgewordenen Kollegen fehlen.

Eigentlich hat es Sie ursprünglich selbst auf die Bühne gedrängt, richtig?

Christian Seeler: Ich wäre am liebsten Schauspieler geworden! Oder hätte auch gern mit Motorradteilen gehandelt. Das habe ich beides schon in der Schule gemacht. Aber es hieß damals: Das Kind muss was Ordentliches lernen. Also hab ich bei Alfred C. Toepfer am Ballindamm Kaufmann gelernt. Getreide- und Futtermittel. Der alte Toepfer ließ uns Lehrlinge manchmal die Alsterwiesen in Ohlstedt sauber machen. Er selbst, der dort wohnte, mit seinem Papierpiekser immer vorweg. Als ich die Lehre durch hatte, bin ich da sofort weg. Ich wollte zum Theater und bin zuerst am Ernst Deutsch Theater als Regiehospitant gelandet. Nebenbei habe ich an der Marschnerstraße weiter Amateurtheater gespielt.

Aber an die Schauspielschule haben Sie sich nicht gewagt?

Christian Seeler: Na, und wie! Bis nach Wien habe ich vorgesprochen, überall. Ich bin mit Beate Kiupel im alten BMW durch die Lande gedüst ...

... die heute im Ohnsorg-Ensemble zu den wichtigsten Protagonisten gehört ...

Christian Seeler: ... genau. Aber die wollten mich nicht. Überall durchgerasselt. „Zu normal“, hieß es immer. Wahrscheinlich auch zu talentfrei, nehm ich mal an. (grinst) Ich hab dann in Hamburg Privatunterricht genommen und beim NDR Nachrichten und Suchmeldungen gelesen. Und dann suchte das Ohnsorg-Theater einen jungen Mann, der Plattdeutsch konnte. Hab ich dann gelernt.

Und heute sprechen Sie natürlich fließend.

Christian Seeler: Nee.

Nee? Der Intendant des Ohnsorg-Theaters kann nicht fließend Platt?!

Christian Seeler: Ich verstehe natürlich alles und kann es auch lesen und beurteilen, ob jemand gut oder schlecht Platt spricht. Aber sprechen musste ich es ja kaum. Das war ja nicht meine Aufgabe. Vielleicht war ich auch zu faul, um es richtig zu lernen.

Ohnsorg und Christian Seeler – das hat ja trotzdem all die Jahre gut zusammengepasst. Warum eigentlich?

Christian Seeler: Ich bin ein sehr pragmatischer Typ und absoluter Autodidakt. Das hat gepasst. Es hat einfach immer Spaß gemacht. Das Ohnsorg bietet tolle künstlerische Möglichkeiten und verfügt über eine gute wirtschaftliche Basis. Es ist wie ein Bonsai-Staatstheater mit eigenen Werkstätten und Ensemble. Man kann viel umsetzen und man darf auch mal scheitern. Theater soll ja kein Museum sein. Man muss es behutsam verändern, das Stammpublikum mitnehmen und gleichzeitig neues Publikum gewinnen. Das alles erfordert eine große Neugierde – und ich glaube, die habe ich immer mitgebracht.

Ein bisschen Museum ist das Ohnsorg aber doch schon, oder?

Christian Seeler: Vielleicht, aber würde man nur noch die sogenannten Klassiker spielen, wäre es auch schnell langweilig. „Tratsch im Treppenhaus“ als Kultstück ist dabei sicherlich eine Ausnahme. Das Ohnsorg hat ein starkes Fundament, das es seit mehr als 100 Jahren gibt. Darauf muss man aufbauen. Dass das Publikum trotzdem immer wieder neugierig ist, hat man zuletzt auch bei „Soul Kitchen“ gespürt. Das war wirklich ein Volltreffer, das hat super funktioniert.

Und die „alten“ Stücke bekommen auch zunehmend junges Publikum – die mögen gern ein bisschen Retro. Ich wäre wahrscheinlich nicht so der Staatstheatertyp gewesen. Dafür war ich immer zu bodenständig. Wie sie an der Schauspielschule halt erkannt haben: Du bist zu normal. Aber ich glaube, ein Privattheater braucht an der Spitze einen „Normalen“, der aber Lust hat, etwas auszuprobieren. Ich bin ein ziemlich angstfreier, optimistischer Typ. Das ist am Theater wichtig.

Gab es Situationen, in denen Sie an Grenzen gestoßen sind?

Christian Seeler: Mein Credo war immer: Wir sind ein Team. Dann geht ganz vieles. Schwierig fand ich die Keilereien innerhalb der Szene um die Subventionen unter der damaligen Kultursenatorin Karin von Welck. Natürlich kann man keinem Theaterchef verbieten zu sagen, dass er auch Subventionen will.

Aber so ein Kannibalismus funktioniert nicht. Man muss gemeinsam dafür kämpfen, dass die Subventionen insgesamt erhöht werden, wie wir es dann ja auch getan haben. Wenn es keine Solidarität gibt, sondern Hauen und Stechen, verlieren am Ende alle.

Im Rahmen der Privattheatertage hatte Kammerspiele-Intendant Axel Schneider eine Debatte angestoßen, in der er der Euphorie um die Elbphilharmonie eine Mitschuld an sinkenden Zuschauerzahlen gab. Sie fanden dazu verblüffend deutliche Worte: Er solle auch Ursachenforschung im eigenen Haus betreiben ...

Christian Seeler: Es ist immer schwierig, einen Kollegen zu kritisieren, man steckt ja nicht in den anderen Theatern drin. Aber ich finde es falsch, Fehler nur woanders zu suchen. Man muss gerade heute sehr genau gucken, was man als Theater anbietet. Das gelingt keinem immer perfekt. Ich finde es einfach zu kurz gedacht, dafür nur die Elbphilharmonie verantwortlich zu machen. Sonst könnte man auch Roncalli nennen oder die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg, die immer mehr Zuschauer anlocken.

Das Angebot insgesamt wird größer, daran arbeiten auch wir Theater kräftig mit: Pro Theater gibt es immer mehr Spielstätten. Wir bieten alle mehr an. Wenn wir 100 Vorstellungen im Ohnsorg-Studio haben, sind das auch mal eben 7000 Plätze, die zusätzlich gefüllt werden müssen. Die Gruppe der Leute, die ins Theater geht, besucht aber nicht unendlich mehr Vorstellungen, sondern sucht halt aus.

Gibt es einen stärkeren Verdrängungswettbewerb als früher?

Christian Seeler: Ja, klar. Die Leute picken sich die Rosinen heraus.

In der Abschlussgala der Privattheatertage gab es von Ihnen dann einen kleinen Seitenhieb gegen die Staatsbühnen, die prozentual weniger einspielen müssen als die Privattheater.

Christian Seeler: Als Aufhörer kann ich es mir leisten, mal einen kleinen Seitenhieb zu verteilen. Aber das war natürlich vor allem eine Pointe. Mir sind die unterschiedlichen Aufgaben sehr bewusst und ich will keine Neid-Diskussion anzetteln. Aber manchmal zeigen die Staatstheater schon eine gewisse Arroganz und wissen gar nicht, welche tollen Sachen im Privattheater oft stattfinden. Das kann man sich kollegial charmant schon mal um die Ohren hauen.

Dennoch steckt ja hinter all dem auch die Wahrheit, dass die Menschen nicht mehr so leicht ein Theater-Abo abschließen wie früher. Ist jetzt vielleicht auch ein ganz guter Zeitpunkt für den Absprung?

Christian Seeler: Die Sache wird jedenfalls nicht einfacher. Die heute 40-Jährigen sind tatsächlich nicht so ans Theater herangeführt worden wie meine Generation. Seit rund zehn Jahren bemerkt man aber einen neuen Boom im Kinder- und Jugendtheaterbereich. Da wächst spürbar etwas nach. Theater ist eine echte Alternative zu Netflix und YouTube! Und ich laufe mit Sicherheit nicht vor irgendetwas weg, das widerspricht meiner Mentalität. Ich habe keine Angst vor Krisen oder Herausforderungen, ich werde eher gut, wenn es schwierig wird.

Es gibt ja die These, dass die Elbphilharmonie in erster Linie die Elbphilharmonie stärkt, aber nicht die Kulturstadt insgesamt. Wie sehen Sie das?

Christian Seeler: Sehe ich nicht so. Das Publikum ist sehr neugierig hier. Und wenn man durch die Elbphilharmonie ein neues Bewusstsein für klassische Musik weckt, ist das doch fantastisch. Dadurch wird eine Aufbruchstimmung erzeugt. Wie eine Lokomotive, an die man sich dranhängt. Klar ist das momentan ein Hype. Ich habe so einen Boom – in kleinerem Maßstab – auch mal erlebt, als wir unser neues Haus am Hauptbahnhof eröffnet haben. Da konnten wir im ersten Jahr fast machen, was wir wollten.

Irgendwann wird auch bei der Elbphilharmonie eine gewisse Gewöhnung einsetzen. Ich bin sicher, dass die Leute sich nicht auf Dauer nachts auf Campingstühle setzen, um an Karten zu kommen. Ich habe übrigens auch mal Kaffee ausgeschenkt, als Leute bei uns für Karten angestanden haben. Als Heidi Kabel das letzte Mal bei uns gespielt hat.

Da waren Sie gerade frisch Intendant. Jetzt können Sie’s ja verraten: War Heidi Kabel wirklich so allürenfrei, wie immer behauptet wird?

Christian Seeler: Total. Sie war wunderbar. Offen, zugewandt, uneitel, unglaublich diszipliniert. Sie hatte mir versprochen, dass sie noch einmal bei mir spielen würde, wenn ich mal Chef werde. Das hat sie gehalten, und das war für sie nicht unanstrengend, da war sie immerhin auch schon 86. Theater war der Mittelpunkt ihres Lebens. Das gilt übrigens genauso für ihre Tochter Heidi Mahler. Heidi Kabel war natürlich damals die Chefin im Ring, aber das war halt ihr natürliches Charisma. Sogar, als ich schon Intendant war, hat sie mich immer ,Mien Jung‘ genannt. Alles, was sie brauchte, war eine warme Garderobe und starker Kaffee. Mehr nicht.

Welche Momente bleiben Ihnen, abgesehen von Ihren Begegnungen mit Heidi Kabel, aus 35 Jahren Ohnsorg als unvergesslich im Kopf?

Christian Seeler: Die Glücksmomente, wenn eine Premiere ein Volltreffer wird. Wenn du merkst, wie das Publikum regelrecht in Brand gesetzt wird, wenn der Funke spürbar überspringt. Das geht durch und durch. Bühnengeschehen und Zuschauerraum werden eine Einheit, da herrscht eine solche Energie ... Das gibt es so nur am Theater. Das ist ein fantastisches Gefühl ... Da brennst du selbst.

Jetzt sind wir doch bei der Wehmut ­gelandet, oder?

Christian Seeler: Klar. Aber diese Momente lasse ich ja nicht zurück. Die nehme ich mit.