Hamburg. Mit einem Gedenkkonzert in der Laeiszhalle nahmen die Symphoniker von Sir Jeffrey Tate Abschied.

Während sein Orchester, ohne Sir Jeffrey Tate, Schuberts „Unvollendete“ spielte, saß Intendant Daniel Kühnel am Sonntag nicht wie sonst im Saal, sondern am Bühnenrand, im Halbdunkel. ­Regungslos, um Haltung ­bemüht, wohl auch persönlichen Trost ­suchend in dieser Musik, die so schrecklich ist und die so auffangend sein kann in ihrer seelenruhigen Schönheit. Denn nichts war wie sonst.

Es gab viele eindrucksvolle, besondere, kleine Szenen an diesem Abend, den eigentlich niemand miterleben wollte. Das Kondolenzbuch im Treppenfoyer der Laeisz­halle, mit dem großen Porträt-Foto ­Tates, schwarz-weiß, lächelnd. Viele bekannte Gesichter aus dem Freundeskreis des Orchesters, die hier ein weiteres Mal begannen, ihren Freund zu vermissen, der am 2. Juni im italienischen Bergamo gestorben war.

Vor allem aber waren es die wenigen Minuten, in denen Tate wieder da war, als sei er nur kurz mal weg gewesen. Auf einer großen Leinwand oberhalb der Bühne liefen Teile der „Close-up“-Proben-Dokumentation mit dem Briten, wie er – genau seine Tasse Tee – einen Teil aus Elgars „Enigma Varia­tions“ probte. Ein Stück Nationalheiligtum für ihn, für die Beobachter ein kleines letztes Geschenk. Denn man sah, was Tate glücklich machen konnte: wie er andere glücklich machen konnte.

„Meister der kleinen Geste“

Understatement beim Fordern nach musikalischer Qualität und Wahrheit. Als er eine geradezu fast richtige ­Orchester-Phrase mit „Die Idee war gut ...“ kommentierte, ließ sich ein leichtes Grinsen nicht ganz verkneifen. Ein Mensch, behaglich mitbrummend, ganz entspannt in seinem Element, war in diesem Moment zu beneiden. Wenig später, beim Empfang im Brahms-Foyer würde Kultursenator Carsten Brosda über ­Tate sagen: „Er war ein Meister der kleinen Geste im Bewusstsein ihrer großen Wirkung.“ Und Brosda würde berichten, dass für gestern, einen Tag nach diesem Konzerttermin, ein ­Senatsfrühstück anstand, um Sir Tate zu ehren, der im April für seine Verdienste um die britische ­Musik zum Ritter geschlagen worden war.

Symbolträchtig gewählte Stücke

Eigentlich hätte Tate selbst an diesem Abend dirigieren sollen: französische Zeitgenossen und Debussys „La Mer“. Stattdessen stand Ion Marin, Erster Gastdirigent des Orchesters, an Tates Stelle, mit Schubert, dem Schlusssatz aus Mahlers Neunter und einem kleinen Auszug aus Bachs h-Moll-Messe. Symbolträchtig gewählte Stücke, weil sie von der Endlichkeit allen Seins berichten und vom Unvollkommenen des Einzelnen, von allerletzten Momenten und von Gottvertrauen. Marin interpretierte Schubert als eindringlich gedehnten Trauermarsch ohne Gleichschritt, das Finale von Mahlers letzter vollendeter Sinfonie als einen Wegweiser in eine andere Welt, mit dankbarer Stille im Saal nach dem Schlusstakt.

Begonnen hatte dieser Abschied aus Tönen mit einer Rede von Burkhard Schwenker, dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Orchesters. Tate, so sagte er, sei Musiker, Freund und Partner gewesen – „die Quintessenz dessen, was er für uns gewesen ist.“

Symphoniker-Intendant
Daniel Kühnel
(r.) und Klaus
Kuhlemann, der
Mann von Sir
Jeffrey Tate, in
der Laeiszhalle
Symphoniker-Intendant Daniel Kühnel (r.) und Klaus Kuhlemann, der Mann von Sir Jeffrey Tate, in der Laeiszhalle © Symphoniker Hamburg

„Ich möchte Ihnen in Dankbarkeit vom Leben sagen, das er uns geschenkt hat“, kündigte Kühnel in seiner Trauerrede an. „Konkret und nicht pathetisch. Die eigene Vergänglichkeit schaut uns prüfend an: Was ist richtig? Was ist falsch? Was wollen wir, was nicht; was ist wichtig und was zweitrangig?“ Als Dirigent müsse man unaufhörlich Entscheidungen treffen, das sei es, was auch die Tätigkeit eines Orchesters ausmache. Er fuhr fort: „Es ist schwer, jeden Morgen aufzustehen, entschlossen im Kampf um die richtigen Entscheidungen keinen widrigen Umständen nachzugeben. Es ist schwer, niemals aufgeben zu wollen. Sir Jeffrey Tates überragender Geist hat vorgemacht, wie es geht.“

Aufrichtig, respektvoll, achtsam

Mit der Entscheidung gut zu sein, zu der er durch seine eigene Person zwang, sei durchaus nicht nur die Pflicht gemeint gewesen, gut zu spielen, sondern als Voraussetzung für allen künstlerischen Erfolg auch „das ­Erkennen der Pflicht, umfassend gut zu sein: gut zueinander, gut in der Begegnung miteinander, aufrichtig, respektvoll, achtsam, zugewandt und konzen­triert. Um keinen Preis wollte er in der Musik oder im Leben Zeit verschwenden.“ Tate habe mit reinem Herzen musiziert, er sei dabei trotz ständiger Zweifel unangreifbar, sicher und souverän, groß und großzügig gewesen. „Er gab sich so schutzlos der Musik hin, dass ihm alle Herzen ins Reine folgten. Wo er war, wurde es hell.“

Wie kaum ein anderer habe Tate von unser aller Vergänglichkeit ­gewusst. „Er formte aus jedem sein eigenes Ideal. Durch ihn wurden wir ­erwachsen. Für mich war diese Zusammenarbeit die Erfüllung eines Kindheitstraums.“ Am Ende dieser Rede stellte Kühnel unbequeme Fragen in den Raum: „Haben wir alles in unserer Macht Stehende getan? Nutzen wir alle die uns gegebene Zeit gut genug, freundlich, beherzt, zugewandt und ­ohne List? Sind wir gut?“ Und nach dem Bach-Schlussakkord verbeugte sich das ­Orchester vor Tates Porträt.