Hamburg. “Zieh dich aus“ und andere Songs: Wo der Hamburger Musiker sie wirklich geschrieben hat und wie er über die Rolle der Frauen denkt.

„Deutscher Pop ist: Jungs, die über Sehnsüchte singen“, bringt Johannes Oerding die aktuelle Lage im Musikgeschäft auf den Punkt, die von Jan Böhmermann so witzig wie brutal mit dem Lied „Menschen Leben Tanzen Welt“ abgehandelt wurde. „Ich merke auch, dass es sehr inflationär wird, der Sound belangloser, die Inhalte einfacher. Hauptsache Junge mit Gitarre.“ Natürlich ist auch Johannes Oerding so ein Junge mit Gitarre, er wäre der Letzte, der es abstreiten würde.

Und doch fällt ihm auf, wie stark der Fokus von Plattenfirmen auf Männern, die Gefühle zeigen, liegt. „Und geradezu krampfhaft wird auch versucht, entsprechende Frauen zu finden. Aber das funktioniert nicht, weil niemand ,das nächste Lied handelt schon wieder davon, wie ich von meinem Freund verlassen wurde‘ hören will. Männer müssen Schwäche zeigen, Frauen hingegen Stärke. Sie müssen zupacken, so wie Pink oder Adele.“

Johannes Oerding, das fünfte Werk
Johannes Oerding, das fünfte Werk © Marcel Schaar | Marcel Schaar

Der Hamburger Pop-Beau hat sich in den Jahren seit seinem ersten Album „Erste Wahl“ 2009 verändert. Als Mensch und als Musiker. Auf dem Sonnyboy liegen Schatten, und das nicht nur, weil wir ihn zum Gespräch in einer dunklen Ecke in der „Bullerei“ in der Schanze treffen. „Ja, das neue Album ist düsterer und zweifelnder. Die letzten zwei Jahre fühlen sich an wie sechs. Und die Themen ‚Liebe, Trennung, unterwegs sein, du schaffst das schon‘ habe ich verlassen, auch wenn sie noch vorkommen“, erzählt er über die Entstehung von „Kreise“.

In Australien inspiriert

Inspiriert wurden viele Songideen bei einem mehrwöchigen Australientrip. „Ich musste diese Welt mal verlassen und über vieles nachdenken“, und dafür holte er vieles nach, was andere nach der Schulzeit erleben. Backpacking ohne feste Adressen, Übernachtungen im Zehn-Mann-Saal, keine Termine. „Und ich muss unterwegs sein, um Songs zu schreiben. Was ich Zuhause zwischen meinen vier Wänden erlebe, hast du in drei Liedern abgesungen.“ Die Gitarre blieb zwar daheim, aber Ideen wurden in Tagebuchform aufgeschrieben und zu Liedern wie „Unser Himmel ist derselbe“ oder „Freier Fall“. „Ach, eigentlich bin ich nur nach Aus­tralien gefahren, um einen Song mit Didgeridoo aufzunehmen. Obwohl dieses Instrument im Pop verboten ist, das wussten schon Die Ärzte“, lacht er.

"Weiße Tauben"

Ungewohnter als der traditionelle Sound der Aborigines sind allerdings Lieder wie „Weiße Tauben“, dass sich mit Newstickern und Timelines voller Katastrophen, Krieg und Terror aus­einandersetzt: „Wer soll die Bombe entschärfen, bevor sie explodiert.“ Politisches hat man von Oerding bislang nie zu hören bekommen. „Das hat sich in den letzten zwei Jahren so entwickelt, dass ich und mein Umfeld sich mehr mit Politik beschäftigen. Und es ist jetzt an der Zeit, auch als Künstler Haltung zu beziehen. Früher war das anders. Politik war privat, damit wollte ich keinen belästigen.“ Das Lied entstand in Zusammenarbeit mit Rapper Samy Deluxe, „von dem ich ein Riesenfan bin. Er konnte immer Probleme ansprechen, ohne wie ein Oberlehrer zu klingen.“

"Ich kann lange ausschlafen"

Natürlich hat Johannes Oerding nach vier erfolgreichen Alben auch den Luxus, bewusster zu handeln, auch mal Anfragen und Termine abzulehnen und die „Große Freiheit“ zu genießen, wie eines der neuen Lieder heißt. „Selbstbestimmtheit ist ein großes Glück, das Demut einfordert, weil viele Menschen das nicht haben. Ich kann lange ausschlafen, muss ich aber nicht.“

Und zu machen, was man möchte, heißt auch den ersten Song von Oerding zu hören, der problemlos in der Großen Freiheit 11, im Stripschuppen „Dollhouse“, laufen könnte. „Zieh dich aus“ ist nichts weiter als eine akustische Anmache auf den hitzigen Minneapolis-Funk, wie ihn Prince dereinst unnachahmlich kultiviert hat. „Ich bin ein wahnsinniger Prince-Fan und wollte mich mal von den anderen Jungs mit Gitarre absetzen, mit denen ich immer in einen Pott geworfen werde. Ich habe ja schon live Funk und Soul gespielt und sogar gerappt. Nun eben auch auf Platte. Ich hatte einfach mal Lust, einen oberflächlichen Song zu schreiben.“

Liebe als Soundtrack

Die inhaltliche Klammer zu „Zieh dich aus“ ist die fast schon gesellschaftskritische Nummer „Love Me Tinder“, die sich mit der Generation Beziehungsoptimierung ihren schlichten Ansprüchen auseinandersetzt. „Love Me Tinder“ als Soundtrack dazu klingt bewusst geglättet, wie das Einhit-Wunder „Lemon Tree“ von Fool’s Garden.

Am Ende seiner Entwicklung ist Johannes Oerding nicht. Mit 35 Jahren steckt er „Zwischen Mann und Kind“, und er würde gern in diesem Moment verweilen: „Der Unterschied zwischen jugendlicher Unbeschwertheit und der Erwachsenenwelt ist der Briefkasten. Als Kind bin ich morgens zum Briefkasten gelaufen und habe Papa die Zeitung geholt in der Hoffnung, dass für mich eine Postkarte von Omma dabei ist. Da hat man sich gefreut, den Briefkasten zu öffnen. Heute komme ich in den Hausflur und will ihn gar nicht öffnen. Irgendwas ist wieder, und sei es nur ein Knöllchen. Mit dem Briefkasten ist es wie mit Fernsehen oder Internet: Es kommen nur selten gute Nachrichten. Und der Rest ist Werbung.“

Johannes Oerding: „Kreise“ Album (Sony) im Handel, Konzert: Sa 25.11., 20.00, Barclaycard Arena, Sylvesterallee 10, Karten ab 42,- im Vorverkauf; www.johannesoerding.de