Hamburg. Sonntag beginnt in der Elbphilharmonie ein spezieller Zyklus: Gustavo Dudamel dirigiert ein Orchester aus seiner Heimat Venezuela.
Für Revolutionen, in welche Richtung auch immer, gibt es keinen besseren, keinen radikaleren klassischen Soundtrack als die stürmend drängende Musik von Beethoven. Schon 1801, in einem Brief aus der Entstehungszeit seiner 2. Sinfonie, schrieb der junge, ertaubende Komponist an einen Freund: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.“
Interview mit Christoph Lieben-Seutter
Seine Dritte wollte er Napoleon widmen, doch als der Korse unschönen Kaiser-Ehrgeiz entwickelte und damit hehre Ideale verriet, hatte es schnell ein jähes Ende mit der Bewunderung. Als Wagner 1849 in Dresden Beethovens Neunte einstudierte, kurz bevor man dort auf die Barrikaden ging, predigte der russische Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin den Künstlern: Auch wenn beim nahen Weltenbrand alle Musik verloren ginge – für den Erhalt dieses Stücks sollten sie ihr Leben wagen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist der Schlusschor mit der Schiller-Ode an die Freude die Europa-Hymne.
„Spielen und kämpfen“
Dass Beethovens Musik, und insbesondere die Sinfonien, so universal ist, so vielseitig les- und deutbar, ist wohl auch ein Grund dafür, dass kein anderer Komponist derart gern von politischen Weltanschauungen vereinnahmt wurde, von ganz links bis radikal rechts. Wenn der Führer Geburtstag hatte, durfte die Neunte im Gratulationsprogramm nicht fehlen, obwohl die sehr tolerante Textzeile „Alle Menschen werden Brüder“ nicht ins ideologische Konzept der nächsten 1000 Jahre passte; als Hitler starb, wurde die Radiomeldung mit dem Trauermarsch aus der „Eroica“ begleitet. Mit der Neunten und der Text-Umdichtung „Freiheit, schöner Götterfunken“ wurde Jahrzehnte später der Fall der Berliner Mauer besungen. Bei Beethoven kann jeder für alles fündig werden.
Spielend scheitern
Von diesem Sonntag an gibt es Beethovens neun Gebote für Orchester und Dirigent im Großen Saal der Elbphilharmonie, fünf Abende hintereinander. Dass dieser Sinfonien-Zyklus, an dem Orchester spielend scheitern können, nicht von einem der branchenüblichen Top-Orchester mit gestandenen, ausgewachsenen Profis präsentiert wird, sondern von einem Jugendensemble, wäre ungewöhnlich genug. Doch es spielt, ausgerechnet, das „Orquesta Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar“, eine der vielen Talentschmiede-Truppen aus der Heimat von Gustavo Dudamel. Aus Venezuela, einem Land im freien Fall.
Geldscheine werden gewogen
Keine Nation hat mehr bekannte Ölreserven, kein anderes südamerikanisches Land ist derart rasant heruntergewirtschaftet worden. Die weltweit wohl höchste Inflationsrate, hungernde Bevölkerung, leere Geschäfte, Korruption, Menschenrechtsdefizite. Morde und andere Gewalttaten gehören nicht nur in der Hauptstadt Caracas zur Tagesordnung. Geldscheine werden nicht mehr gezählt, nur noch gewogen. Kürzlich wurde die Zwei-Tage-Arbeitswoche ausgerufen, weil das Energie sparen sollte.
Und mittendrin, blank poliert und hochgehalten, das musikpädagogische Erfolgsmodell „El Sistema“. Musikbegeisterte Kinder und Jugendliche, liebevoll streng erzogen, für die der erhellende, befreiende Umgang mit Instrumenten und klassischen Meisterwerken der einzige Weg aus dem allgegenwärtigen Elend sein soll. Eine Insel des Seligen, quasi. Das „El Sistema“-Motto lautet „Spielen und kämpfen“. Bei allen Verdiensten, die nicht von der Hand zu weisen sind: Nach Streichelzoo klingt das eher nicht.
Weiter verschärft
Bereits unter dem letzten Regierungschef Chávez waren die „El Sistema“-Teenager, die international gefeiert werden, sobald sie ihre Heimat verlassen, auch ein kulturpolitisches Feigenblatt für das sozialistisch inszenierte Regierungssystem; unter Chávez‘ Nachfolger Maduro, der sich ähnlich gern vergöttern lässt, hat sich die Krise Venezuelas noch weiter verschärft. Und Dudamel, „The Dude“, gerade 36, seit 2009 Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic, ist so etwas wie der „El Sistema“-Posterboy. Ein immens begabter Dirigent, der komplexe Partituren zum Glühen bringen kann. Doch in der Zwickmühle, in der Dudamel seit Jahren gefangen ist, möchte man nun wirklich nicht stecken. Sobald die Sprache auf die politische Situation in seinem Heimatland kommt, rettet der Publikumsliebling sich ins für ihn sichere Ungefähre. Er floskelt dann, anstatt jenen Klartext zu reden, den nicht nur die venezolanische Pianistin Gabriela Montero von ihm einfordert.
Schule fürs Leben
„Es ist die Basis dessen, was ich bin“, sagte er dem „Zeit magazin“, „,El Sistema‘ muss über den täglichen Grabenkämpfen stehen. Die Kritiker urteilen mit einer Moral, die eine Perfektion verlangt, die es nicht gibt.“ Ohne diese Schule fürs Leben wäre Dudamel nicht dort, wo er jetzt ist, mit der überübernächsten Generation musikbegeisterter Jugendlicher aus Venezuela, die sich so einen Traum erfüllen, der nicht nur ihnen hilft. Ein schnelles, einfaches, handliches Urteil gibt es womöglich nicht, erst recht nicht, wenn man nicht selbst Musiker ist. Der syrische Klarinettist Kinan Azmeh, dessen Heimat zum Opfer eines anderen Regimes wurde und der in diesen Tagen unmittelbar vor den Venezolanern in der Elbphilharmonie spielt, sagte zu den „El Sistema“-Konzerten: „Solange Kunst nicht als Propagandawerkzeug eingesetzt wird, bin ich immer dafür.“
Als der von Dudamel höchstverehrte Sistema-Gründer José Antonio Abreu bei den Salzburger Festspielen 2013 die Gretchenfrage zu Kunst und Politik gestellt wurde, hatte er mit storischem Gesichtsausdruck geantwortet: „Wir haben Beziehungen mit dem Staat, nicht mit der Regierung.“
Die Konzerte sind ausverkauft. Die Konzerte am 21. und 23.3. (jew. 20.00 Uhr) werden auf www.elbphilharmonie.de im Livestream übertragen. In der Zentralbibliothek (Hühnerposten 1) sind Fotos von Andreas Knapp zu sehen, der das Orchester über mehrere Jahre begleitet hat. Bis 25.3., Eintritt frei.