Hamburg. Das Rotterdam Philharmonic Orchestra gab sein Debüt im Großen Saal unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin. Geiger knipst Kollegen.

Dass ein Tutti-Geiger in der Umbaupause zwischen zwei Stücken schnell die Kamera für ein Erin­nerungsfoto der Orchester-Kollegen zückt, erlebt man in anderen Konzert­sälen als der Elbphilharmonie wohl eher nicht. Andererseits: Verstehen kann man es. Nun hat also auch das Rotterdam Philharmonic seinen ersten Abend dort gehabt, fürs Familienalbum festgehalten und mit einem Tour-Programm überzeugt, das insbesondere die Stärken von Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin clever und unmittelbar hinreißend ins richtige Bild setzte.

Der quirlige Maestro aus Montreal hatte nicht die gängigen Reisegepäck-Partituren dabei, die man spielen, aber lassen könnte: Statt einer der frühen Sinfonien gab es die späten „Sinfonischen Tänze“ von Rachmaninow, und statt des Best-of aus Bernsteins „West Side Story“ die viel rauere, unbekanntere, oscarprämierte Filmmusik-Suite aus Elia Kazans „On The Waterfront“ („Die Faust im Nacken“).

Kümmert sich um jede Melodielinie

Und in beiden Stücken, so unterschiedlich sie auch sind, wurde klar, warum der Maestro aus Montreal so beliebt ist, warum seine Pult-Methodik so unmittelbar mitreißt: Er kümmert sich von Herzen gern, mit Leib und Seele, um jedes Detail, um jede Melodielinie, um jeden Moment der Emphase.

Bei Bernstein hegte und pflegte er die finstere Melancholie, die finster dröhnenden Schlagzeug-Rhythmen, das noble, aber hoffnungslose Hauptthema in den Bläsern, das Bernstein damals Marlon Brando auf den sehnigen Ex-Boxer-Leib komponiert hatte. Im Dreiteiler von Rachmaninow dagegen ließ Nézet-Séguin es an den richtigen Stellen sehr gepflegt und sehr gekonnt krachen. Hier war die Virtuosität des Orchesters der Star, die geschmeidige Leichtigkeit, mit der diese Musik ihre Größe feierte und genoss. Das mit Pathos garnierte Überwältigungspotenzial lotste Nézet-Séguin bravourös ins Finale und wurde angemessen gefeiert.

Mittel- und in mancher Hinsicht auch Höhepunkt war allerdings ein sehr romantisches Bravourstück, Chopins 1. Klavierkonzert, mit Jan Lisiecki, dem zweiten Kanadier des Abends. Gerade mal 21, in einem Pianistenalter also, bei dem man noch einen Platz im Welpenschutzprogramm beanspruchen könnte, um Fragen nach dem Stand der inneren Reife zu entkommen. Der ist noch jung, der muss noch viel spielen.

Brillanz der Fingerfertigkeit

Während ­Lisieckis Umgang mit Klassikern wie Beethoven oder Mozart noch Luft nach oben hat – sein Chopin, der hat was. Was, abgesehen von der reinen Brillanz seiner Fingerfertigkeit und der einsamen Freude an der gemeinsamen Suche mit einem hingebungsvoll freundlich begleitenden Orchester, wurde an diesem Abend noch nicht ganz klar. Doch für eine umjubelte Interpretation reichte es, lässig geradezu. Mit seiner Zugabe, dem c-Moll-Nocturne op. 48/1, wagte sich Lisiecki in Chopin-Regionen vor, die für in Ehren ergraute Chopin-Götter wie Rubinstein & Co. reserviert sind. Nerven hat er also, der Rest kann ja noch kommen.