Hamburg. Iveta Apkalna begeisterte mit ihrem festlichen Soloauftritt an der „Königin der Instrumente“ nicht nur das Publikum im Großen Saal.

Ganz leise rieseln die ersten Töne in den Saal, sie glitzern und funkeln wie ein musikalischer Sternenregen. Iveta Apkalna sitzt am mobilen Spieltisch der Elbphilharmonie-Orgel, in der Mitte der Bühne, und lässt ihre Finger behände über die Tasten tippeln. Noch hält sie die Füße still. Aber das ändert sich bald. Allmählich schwillt der Klangstrom in der Toccata von Aivars Kalejs an, er wird immer kräftiger, bis der Choral „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr“ majestätisch im Bassregister dröhnt. Apkalna tritt in die Orgelpedale und bringt die Luft zum Wummern. Der edle Sound geht durch Mark und Bein, als hätte ein Schiffshorn singen ­gelernt.

Solo für die Königin der Instrumente

„In solchen Momenten habe ich selbst Gänsehaut!“, bekennt die lettische Titularorganistin der Elbphilharmonie nach dem umjubelten Konzert, mit dem sie sich und das neue Instrument ausgiebig und in voller Pracht präsentierte – nachdem die Orgel ja bisher nur als Farbnuance in Orchesterwerken zu erleben war. Jetzt also endlich der große, festliche Soloauftritt der „Königin der Instrumente“. Sie wiegt rund 25 Tonnen, ist 15 mal 15 Meter groß, und wurde vom Bonner Orgelbauer Philipp Klais so organisch in den großen Saal integriert, dass eine ganze Reihe der bis zu elf Meter langen Pfeifen aus der Rückwand herauswächst. Eine geniale Idee, die auch den Klang zu verstärken scheint. Das Auge hört schließlich mit.

Um möglichst vielen Besuchern freie Sicht zu gewähren, bleiben die Plätze vor der Orgel leer. Dabei hätte man sich an der ein oder anderen Stelle gern mal aus der Nähe anbrummen lassen, wie beim sanften Erdbeben im Stück „Hell und Dunkel“ von Sofia Gubaidulina, das die Klangspektren der Orgel bis in die Extreme ausreizt. Schrilles Kreischen und herbe Tonballungen inklusive, die sich schmerzlich-schön in die Eingeweide fräsen – von Iveta Apkalna mit dem ganzen Unterarm in die Tasten gedrückt. Hier lernen wir die Instrumentenkönigin noch einmal von einer ganz neuen Seite kennen. Und das ist natürlich kein Zufall.

Spätromantische Akkordschauer

Apkalna hat ihr anspruchsvolles Programm – nicht nur, aber auch – als Leistungsshow der neuen, vom Hamburger Unternehmer Peter Möhrle gespendeten Orgel angelegt. „Ich wollte viele Facetten zeigen und die ganze Bandbreite der Dynamik nutzen, damit man einen Eindruck davon bekommt, was sie alles kann.“

In der 1930 entstandenen Sonate „eroïca“ von Joseph Jongen inszeniert Apkalna zunächst spätromantische Akkordschauer, die für das „Phantom der Oper“ Pate gestanden haben könnten, um den Saal dann in opulenter Farbpracht zu baden. Im Finale des dritten Aktes aus der Oper „Satyagraha“ von Philip Glass erzeugt sie durch den Wiederholungsfluss der Minimal Music einen hypnotischen Sog. Kann das bitte nicht schon nach zehn Minuten aufhören? Oder einfach gleich noch mal von vorne losgehen?

Sie und die 4765 Pfeifen können auch anders

Die Organistin fesselt vor allem mit dem Farbreichtum des 20. und 21. Jahrhunderts. Aber sie und die 4765 Pfeifen der Orgel können auch ganz anders. Ein Höhepunkt des Konzerts ist Johann Sebastian Bachs Stück Toccata, Adagio und Fuge C-Dur, in dessen Mittelsatz sie einen wunderbar gedeckten Ton findet, ganz schlicht, warm und innig. Plötzlich wirkt die Orgel beinahe historisch; der Saal wird zur natürlichen Heimat der Barockmusik. Genau diese Vielfalt liegt Apkalna am Herzen. „Das Große und Strahlende e ist eben nur eine Seite des Instruments. Ich finde, es klingt bei Bach fast wie eine Silbermann-Orgel.“

Mit dem Klang und ihrer Interpretation beeindruckt Iveta Apkalna auch Kollegen wie Christoph Schoener, Kirchenmusikdirektor vom benachbarten Michel. Schoener zählt beim anschließenden Empfang zu einer ganzen Reihe von prominenten Gratulanten aus Kultur und Politik. Unter ihnen Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und die zu Recht stolze lettische Kulturministerin Dace Melbarde, die Iveta Apkalna schon oft erlebt hat – aber noch nie so wie in der Elbphilharmonie. „Normalerweise sind die Organisten ja immer irgendwo im Raum versteckt.“, sagt Melbarde. „Dadurch, dass Iveta Apkalna hier mitten auf der Bühne gespielt hat, konnte man sie förmlich auf dem Instrument tanzen sehen, das war für mich ein magnetischer Anblick!“

Die Orgel wird nahbar

Ein ganz wichtiger Punkt. Abgesehen davon, dass die blonde Organistin – im eleganten Jumpsuit mit tiefem Rückenausschnitt – wie immer eine Augenweide ist, rückt vor allem das Instrument als faszinierender Klangzauberkasten viel stärker ins Zentrum als sonst. Das meistens irgendwie doch ziemlich ferne und fremde Ding namens Orgel wird auf einmal sehr nahbar.

Nach dem Konzert strömen einige Hundert Hörer auf die Bühne, auf der schon während des Konzerts ein Teil des Publikums sitzt, um den schwarzen Spieltisch mit seinen vier Manualen aus der Nähe zu betrachten, weiter oben drängen sich die Besucher in den Rängen vor den Pfeifen. Die neue Hamburger Orgel ist eine Königin zum Anfassen, sie lädt zum Betasten und Entdecken ein, wie überhaupt der ganze Raum. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft aus der Elbphilharmonie: dass sie eine Offenheit und Neugierde generiert, die einem hilft, seine eigenen Vorurteile zu überwinden.

Orgelmuffel könnten auch begeistert sein

Beim phänomenalen Abend mit ­Iveta Apkalna entdecken jedenfalls selbst vermeintliche Orgelmuffel plötzlich das Suchtpotenzial des Instruments. Man fühlt sich umarmt vom Klang des Instruments im großen Saal und kann die Organistin sehr gut ver­stehen, wenn sie schwärmt: „Hier fühle ich mich zu Hause.“