Hamburg . In Hamburgs neuem Konzerthaus gastierten Riccardo Muti und sein Chicago Symphony Orchestra – Stresstest bestanden.
Elbphilharmonischer Spieltag Nummer vier: Kartensuchende vor dem Eingang und 40 Meter höher, in den Foyers, und ein Publikum für das offizielle Auftaktkonzertdes dreiwöchigen Eröffnungsfestivals, das mondäner ist als an den Abenden zuvor. Die Smokingdichte ist deutlich höher als bei den Galas, die Anweisungen an die Gatten, wie die Trophäen-Fotos zu machen sind, sind vielsprachiger. Die Betriebstemperatur steigt, parallel zur Begeisterung über dieses Gebäude und seine Perspektiven, und ein erster vergleichender Debattenbeitrag zum Kernthema Akustik sollte jetzt möglich sein.
Erstes internationales Orchester
Nach den zwei höchstinteressant umstrittenen NDR-Eröffnungskonzerten – die auf gewisse Weise nicht mehr und nicht weniger waren als zwei erste Abende des Residenzorchesters in seiner neuen Heimat – und nach dem ersten Qualitätsarbeits-Konter von Kent Nagano und seinen Philharmonikern betrat nun das erste internationale Top-Orchester auf Durchreise die Bühne im Großen Saal: das Chicago Symphony Orchestra aus einer Partnerstadt Hamburgs. Eines dieser großen US-Orchester, denen gern der Ruf vorauseilt, cool liefernde, auf Höchstglanz polierende Partituren-Perfektionierungsmaschinen zu sein.
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Als Spiel-Zeug genau das Richtige für Maestro Riccardo Muti, seit 2010 dort Chefdirigent, der wahrscheinlich das „Maestro“ als seinen eigentlichen Vornamen betrachtet und neben seiner italienischen Herzensgüte auch über ein Ego verfügen soll, das er von Karajan geerbt haben könnte. Soll heißen: Wo Muti dirigiert, ist ganz oben. In Hamburg war das Orchester aus Chicago fast ewig nicht mehr, mehrere Jahrzehnte nämlich, rätselt die Pressesprecherin. Aber nun gleich zwei Abende hintereinander.
Lampenfieber und Erfolgsdruck
Was hier bislang geschah: Thomas Hengelbrock und sein Orchester hatten mehrere Monate, um sich als wichtigste Stammgäste mit dem Potenzial des Großen Saals vertraut zu machen; um sich selbst neu zu finden und zu erfinden. Sie werden mit Unmengen von Konzerten prägend sein, sie sollen geprägt werden durch den Neubau. Das gelang, als am 11. und 12. Januar die Show vor laufenden NDR-Kameras begann, nicht immer gut (soweit man das in einem brandneuen Saal als Erst-Mithörer auf einem unbekannten Platz beurteilen kann), vielleicht wegen des Lampenfiebers und des übermenschlich großen Erfolgsdrucks, der sich auf diese Abende konzentrierte, als gäbe es kein Morgen und erst recht keine zahlreichen Spielzeiten danach. Danach war klar, dass das Höreindrucks-Niveau hier, da und dort so uneinheitlich sein könnte wie das Wellenmuster der Gipsfaservertäfelung. Kent Nagano wiederum nutzte die deutlich kürzere Vorlaufzeit für sein erstes Philharmoniker-Konzert, um seine Erfahrung beim Umgang mit Stücken in Übergröße auszuspielen. Weitere werden folgen, und Nagano ist entschlossen, mit diesem Orchester seinen Status auch als Hamburger Generalmusikdirektor zu unterstreichen.
Staunen in den Saal-Rängen
Jetzt also ein Spitzenorchester, das sicher nicht nur aus Kostengründen – jede gewerkschaftlich nicht abgesegnete Kunstproduktions-Minute kostet extra – auf eine Anspielprobe in jenem Saal verzichtete, der doch noch als großer Unbekannter gilt, als Stresstest für Musikernerven und Klanggüte. Die Auswärtsmannschaft aus Illinois fuhr eine Stunde vor Konzertbeginn vor, packte backstage aus und legte los, getreu der Musiker-Spielregel „Wer übt, kann nichts“. Und zumindest in Block K, zentrales Mittelgebirge in den Saal-Rängen frontal vor der Bühne, kam man aus dem Staunen nicht heraus.
Musikalische Perfektion spulte sich vor knapp 2100 am Ende tobend begeisterten Menschen ab, nicht unbedingt heiß glühende, immer von Herzen kommende Perfektion, aber dennoch: Perfektion. Spielend. Wie ein Spürhund, der wittert, wo die leichte Beute ist, brachte Muti das Tutti zu Beginn in Hindemiths „Konzertmusik für Streichorchester und Blechbläser“ intuitiv auf Ideallinie: Die Bläser einfach etwas leiser, die Streicher etwas lauter. Fertig. Der Rest: Profis wie auf Autopilot. Ein Homerun.
Gut ist im großen Saal, wer gut ist
Geht doch, scusi, wo ist das Problem, zeigte dieser Auftakt. Da hing er dann also, der sprichwörtliche Hammer.
Gut erkennbar insbesondere für den Konzertbesucher Thomas Hengelbrock im Parkett. Danach wurde es nur noch besser. Elgars vertonte Italien-Postkarte „In the South“ verströmte Flair und Leichtigkeit und dahingeschlenzte Brillanz.
Später, beim kurzen „Meet and Greet“ mit Maestro neben dem Dirigentenzimmer, umschwärmt von einer ebenso untertänigen wie polyglotten Entourage, betonte Muti noch einmal, nur mit Worten, wie gut man es im Großen Saal haben kann, sobald man gut ist. „Wir fühlten uns sehr komfortabel“, beschrieb Muti ihn bei der Audienz, so gelassen lächelnd wie ein durchtriebener Padrone nach erledigter Sonntagsbeichte. Etwas trockener als die ein Jahr ältere Pariser Philharmonie sei dieser Raum. Kleine Verbesserungen seien zukünftig möglich, „wenn man beispielsweise eine etwas wärmere Atmosphäre möchte, nicht so objektiv wie ein Bild“. Die Halle sei „sehr ehrlich, sie verbirgt Schwächen nicht“.
Edelmetall-Triumphbogen
Dass das auch für Stärken gilt, belegte die zweite Konzerthälfte: russische Kracher, Showtime für große Besetzung. Mussorgskys „Nacht auf dem kahlen Berge“ war nur Aufwärm-Opus für die folgenden „Bilder einer Ausstellung“. Unfassbar delikat gespielte Soli (diese Trompete!, diese Klarinette!, dieses Altsaxofon!); bis an den Rand der Hörbarkeit verfeinert, standen sie zum Greifen nah im Raum. Die Mischung der Zutaten kam in K Mitte wunderbar an, das „Große Tor von Kiew“ entpuppte sich als schnittiger Edelmetall-Triumphbogen.
Und von dieser Lektion in Perfektion blieb eine Erkenntnis: Der Große Saal der Elbphilharmonie kann gnadenlos sein, wenn man ihm nicht gewachsen ist, das Ausmaß dieses Charakterzugs wird sich mit jedem Konzert deutlicher zeigen und nicht auf allen Plätzen gleich stark. Aber, und das ist die gute, grandiose Nachricht: Er kann auch gnadenlos gut zu einem sein, man muss es sich eben nur verdienen, Note für Note und Sitzblock für Sitzblock womöglich auch. Schummeln war gestern.
Das sagen die Kritiker
Die Elbphilharmonie ruft weiterhin ein großes Echo in der Welt hervor. Die „New York Times“ berichtete zuletzt mehrfach, in einem Resümee der Eröffnungskonzertkritik heißt es: „Wenn man von der kreativen Begeisterung der Eröffnungsveranstaltungen ausgeht, ist das Konzerthaus auf dem Weg, eine Musikkultur zu installieren, die so optimistisch und beeindruckend wie das Gebäude selbst ist.“
Der „Spiegel“ schreibt über die Akustik: „Der große Gesamt-Wumms, die Überwältigung durch Klang und Kraft (auch im Leisen) blieb aus. (...) Der Saal klingt voll besetzt anders als leer. Nämlich schlechter.“