Hamburg. Philharmoniker lassen Uraufführung von Jörg Widmanns „ARCHE“ in der Elbphilharmonie effektvoll vom Stapel.

Von allem etwas, und um Himmels willen nichts Wichtiges auslassen! So in etwa stand es wohl in Noahs Frachtpapieren, als er seine alttestamentarische Arche mit Wesen aller Art bis unter die letzte Ladeluke füllte. Bekanntlich ist sie dennoch nicht untergegangen. Der Komponist Jörg Widmann hat sein neues Oratorium mit Personalmengen versehen, als wäre es eine dieser Breitwand-Bibel-Verfilmungen, in der sich Solisten bis zum Horizont stapeln.

In „ARCHE“ singen die Alsterspatzen, Kinder-Solisten, die Audi Jugendchorakademie und der hiesige Staatsopern-Chor. Ein Riesenstück, das zwischen individueller Verzweiflung eines Sinnsuchenden und allgemeinmenschlicher Hoffnung changiert, aber auch – und das nicht zu knapp – auf dem schmalen Grat zwischen spektakulär und Spektakel balancierte.

Viel mehr passt nicht in 80 Minuten

„ARCHE“ wurde am Freitag beim ersten Elbphilharmonie-Konzert nach den beiden Eröffnungs-Galas von Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano und seinen Philharmonikern vom Stapel gelassen. Ein voll beladener Supertanker zeitgenössischer und sehr zeitgemäßer Vielschichtigkeiten, der auf das Ensemble-Format von Mahlers Achter Sinfonie zusteuert. Texte von Claudius, Klabund, Heine, Sloterdijk, Andersen, Brentano, Schiller, Franz von Assisi, Nietzsche, Schimmelpfennig, Thomas von Celano, Michelangelo und aus „Des Knaben Wunderhorn“ hat Widmann genommen, dazu Stellen aus der Bibel und Formatvorlagen aus Messe-Texten. Viel mehr passt nicht in 80 Minuten, und die vielen musikalischen Zitate sind da noch nicht mitgerechnet.

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Der enzyklopädische Ehrgeiz jedoch war dem feierlichen Anlass angemessen. Der Rihm-Schüler Widmann, seit Jahren einer der produktivsten und stilversiertesten Komponisten, hatte offenbar nicht nur eine Raum-Sensation im Neubau am Elbufer im Sinn, sondern auch ein zeit- und stilvereinnahmendes Über-Oratorium für den Menschen an sich. Das ist auf seine Art schöpferischer noch als Haydns „Schöpfung“. Wo der Wiener Klassiker das Chaos der Seinswerdung noch in harmonischer Eintracht vertonte, bediente sich Widmann virtuos bei allem, was ein riesiges Tutti hergeben kann, instrumentale Verfremdungseffekte inklusive. Avantgarde, die auch für Publikum attraktiv sein will und kann, das ansonsten vielleicht lieber keine „Avantgarde“ hören möchte.

Ein Oratorium, in dem der Chor schunkelt

Um die Chance zur Überwältigung auszureizen, wurden alle technischen Möglichkeiten clever genutzt: Textstellenpünktlich wurde es Licht rund um den Reflektor über der Bühne, von Iveta Apkalna an der Klais-Orgel sekundiert. Sollte es für einige Takte göttlich werden, dröhnte es mit einem Nachdruck in den Raum, der Agnostiker zumindest kurz ins Grübeln kommen ließ. Die Erzähler- oder eher Vorleser-Parts übernahmen anfangs zwei Kinder. Als Marlis Petersen, raffiniert strahlend, ihr erstes Solo als Land suchende Taube hatte, wanderte sie, verfolgt von einem Scheinwerfer, durch die Ränge hinab zur Bühne, um sich im Mittelteil „Die Liebe“ dem vielfältig inszenierten Duettieren mit Thomas E. Bauer hinzugeben, dessen Bariton satten, mitteldunklen Glanz verströmte.

Nagano dirigierte all das mit der Routine eines Könners, der – man denke nur an Messiaens XXL-Oper „Saint François d’Assise“ – schon viele solcher Brocken bewältigt hat. Er blieb ruhig am Ruder und hatte offenbar gut genug geprobt, um sich bei der Aufführung nicht noch übermäßig als Korrektor echauffieren zu müssen. In Block N klang das Orchester gleichermaßen ausdrucks- und nervenstark, Details blieben klar, Klangeruptionen wahrten den notwendigen Anstand. Am Ende gab es dafür stürmischen, voll und ganz verdienten Beifall für alle und alles.

Der Komponist Widmann ist ernst, mit allem

Das ganz große Komponisten-Besteck also, um Symbolbegriffe wie „Himmel“ oder „Licht“ so zu bebildern, dass man sich gerade im ersten der fünf „ARCHE“-Decks wie in einer anspruchsvollen Comic-Vertonung vorkommen konnte. Das Tolle daran: Die meisten dieser Tricks funktionierten, weil sie nicht den Eindruck machten, auf ironische Brechung abzuzielen.

Widmann ist es ernst, mit allem. Das wirkte in der Summe mitunter wie die Deluxe-Version eines wohlmeinenden Kirchentags-Musicals, trug aber ebenfalls zur Eindringlichkeit bei. Die gab es – als beispielsweise aus den wogenden Wellen des Orchestersatzes ein anrührender Choralsatz über „Der Mond ist aufgegangen“ auftauchte wie eine Rettungsboje für verlorene Seelen.

Ein ungewöhnlicher Auftakt für eine neue Ära

„Unser Schuldbuch sei vernichtet / ausgesöhnt die ganze Welt / auch die Toten sollen leben / Brüder trinkt und stimmet ein / allen Sündern soll vergeben und die Hölle nicht mehr sein“? Wie Widmann diese Text-Frühfassung von Schillers „Ode an die Freude“ zum Zwilling des berühmten Schlusschors aus Beethovens Neunter zwirbelt, ist derart gekonnt durchgepaust, dass man es ihm nicht übel nehmen kann.

„ARCHE“ hat aber auch Momente, bei denen Widmann es übertreibt mit den kompositorischen Fingerfertigkeiten und Anspielungen. Dort wirkt das Oratorium eher wie ein übereifriger Versuch, Bernsteins Entertainer-Genius zu toppen. In einem Moment „bacht“ es in der Partitur andächtig vor sich hin oder fasziniert effektprall mit Strawinsky-Elementen. Im nächsten lloyd-webbert die Musik hemmungslos Richtung Broadway. Oder die lieben Kleinen neben den Orgelpfeifen müssen im finalen „Dona nobis pacem“ IT-Vokabular vom Rang in den Raum rufen, als ob das neue iPhone ein Update der guten alten Tontafeln wäre.

Ein Oratorium, in dem der Chor zu schunkeln hat? Muss man lange suchen in der Musikgeschichte. Aber dennoch: Der Große Saal der Elbphilharmonie, dieser anfassbar gewordene Ausnahmezustand, heiligt am Ende selbst profane Ausdrucksmittel. Ein ungewöhnlicher Auftakt für eine neue Ära.