Hamburg . John Neumeiers Inszenierung von „Das Lied von der Erde“ setzt sich beeindruckend mit Abschied und Ewigkeit auseinander.

Der Beginn ist stumm. Alexandr Trusch liegt auf einer grasbewachsenen Schräge und starrt in den Himmel. Ein idyllisches, friedliches Bild. Von links nähert sich eine Gestalt in Weiß. Wie eine Geistererscheinung umkreist Hélène Bouchet den Tänzer. Lässt ihre Hände sprechen, streckt langsam ein Bein in die Höhe und biegt ihren Oberkörper bedenklich weit nach hinten. Irgendwann setzt doch noch die Musik ein in der Deutschlandpremiere von „Das Lied von der Erde“, die Hamburgballettchef John Neumeier nach der Komposition von Gustav Mahler schuf. Im Prolog erklingen zunächst Fragmente aus dem 6. Satz in einer Klavierfassung.

Das sinfonische Ballett, dessen Uraufführung bereits im Februar 2015 in Paris über die Bühne ging, markiert das Ende einer intensiven Auseinandersetzung Neumeiers mit dem Komponisten Gustav Mahler, die inzwischen 15 Ballette umfasst. 50 Jahre lang trug er sich mit der Idee, Mahlers Spätwerk umzusetzen. Seit er in Kenneth MacMillans Stuttgarter Version 1965 getanzt hatte. „Das Lied von der Erde“ (1911 postum uraufgeführt) bildet auch inhaltlich einen Schlusspunkt, weil es das Thema der Endlichkeit verhandelt.

Mischung aus Schutzengel und Todesbotin

Trusch als Wiedergänger des Komponisten durchlebt noch einmal in seinen Erinnerungen die wechselvollen Jahreszeiten des Lebens – um der Erde schließlich Adieu zu sagen. Geleitet wird er nicht nur von Bouchet als Mischung aus Schutzengel und Todesbotin sondern auch von einem Schatten, getanzt von Karen Azatyan, der seine Bewegungen spiegelt. Beide Tänzer harmonieren perfekt mit ihrer kraftvollen Geschmeidigkeit. Trusch beeindruckt mit lupenreiner Technik und einer zarten Virilität. Auch in den pathetischen Momenten ist sein Ausdruck allezeit glaubhaft.

Bis auf das Rasenstück und eine runde Lichtinstallation unter einem trapezförmigen Spiegel, die mal als glutrote Sonne, mal als Halbmond, mal ganz verdunkelt erscheint, bleibt die Bühne leer. Steht Trusch zu Beginn noch in Jeans und Shirt auf der Bühne, werden die Kostüme im Verlauf des Abends traditioneller, zitieren asiatisch strenge Formen. Wenig spektakulär, aber passend vor dem Hintergrund, dass Gustav Mahler in „Das Lied von der Erde“ eine Sammlung chinesischer Gedichte aus dem 8. Jahrhundert ins Deutsche übersetzte und vertonte. Es ist eine ergreifende Abschiedssymphonie und eine euphorische Feier des Lebens und der Liebe zur Natur zugleich.

Gruppenszenen etwas gleichförmig

Wie ein Traum erscheint das Leben hier. Überwiegend stark nach innen gerichtet, hält sich die Inszenierung mit großen Effekten zurück. Die Pas de deux von Trusch und Bouchet wie auch die Szenen von Trusch und Azatyan zählen gleichwohl zu den stärksten des Abends. Wie Trusch und Bouchet sich im zweiten Bild „Der Einsame im Herbst“ umschlingen, heben, ineinander verknäulen, mit sanften Gesten berühren, ist von großer Intensität.

Der Gesang vom lange währenden Herbst im Herzen und der Sehnsucht nach der Sonne der Liebe erinnert an die persönlichen Schicksalsschläge des Komponisten – Tod der Tochter im Kindesalter, eigene Herzerkrankung – zur Zeit der Entstehung des Werkes.

Demgegenüber fallen die Gruppenszenen mit eher dezenten Sprüngen etwas gleichförmig und standardisiert aus. „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ etwa legt nach dem intimen Prolog gleich schwungvoll los. Auf einmal teilen sich an die 30 Tänzerinnen und Tänzer die Bühne, laben sich an den Freuden des Diesseits, der Schönheit, der Liebe und dem Genuss.

Souverän dirigiert Simon Hewett das Philharmonische Staatsorchester Hamburg. Links und rechts der Bühne treten Tenor Klaus Florian Vogt und Bariton Michael Kupfer-Radecky abwechselnd ans Stehpult, um mit den Liedzeilen Gustav Mahlers die Episoden voranzutreiben. Neben der spätromantischen Melancholie stehen Erinnerungen an die Unbeschwertheit der Jugend („Von der Jugend“) und das Plaudern mit Freunden. Fröhlich und verspielt geraten auch die Erinnerungen an Blumen pflückende junge Mädchen („Von der Schönheit“) und das Erwachen erster Liebessehnsucht. Sonst wäre dieses elegant von Verlust und Vergehen erzählende Tableau schwer zu ertragen.

Am Ende, als die Bühne in ein jenseitiges Blau getaucht leuchtet, heißt es unwiderruflich Abschied nehmen. Dieser Part ist auch musikalisch düster, mündet jedoch in eine tröstliche Jenseitshoffnung und die Gewissheit eines endlosen Kreislaufs der Natur. „Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz und grünt/Aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht die Fernen!/Ewig ..., ewig ...“. Hélène Bouchet wird zur Todesbotin. Langsam kriechen und schleppen sich die Tänzerinnen und Tänzer in einem grandiosen Schlussbild zur nächsten Etappe. Schwer errungen liegen Ruhe und Frieden über der Szene.

John Neumeiers Beschäftigung mit Gustav Mahler hat ein eindringliches und stilles, wenn auch nicht durchweg berührendes Ende gefunden.

„Das Lied von der Erde“ weitere Vorstellungen 9.12., 13.12., 15.12., 17.12., jew. 19.30, Hamburgische Staatsoper, Große Theaterstraße 25, Karten 6,- bis 109,- unter T. 30 30 68 68; www.hamburgballett.de