Hamburg. Die Erste Solistin des Hamburg Balletts, Hélène Bouchet, tanzt eine Hauptrolle in „Das Lied von der Erde“.

15 Ballette hat John Neumeier im Laufe seines langen Choreografenlebens zu Musik von Gustav Mahler geschaffen. Nur um ein Werk hat er lange einen Bogen gemacht, was mit einer frühen bewegenden Erfahrung als junger Tänzer zusammenhängt: Er hatte selbst vor rund 50 Jahren in „Das Lied von der Erde“ von Kenneth MacMillan getanzt.

Als Erste Solistin ist sie fast überall präsent

„Diese Erfahrung war sehr wichtig für meine Entwicklung als Choreograf. Lange Zeit war es mir nicht möglich, mich im Schatten eines Meisterwerks von MacMillan mit der gleichen Musik von Mahler zu befassen“, sagt Neumeier im Journal der Staatsoper.

2015 wagte er sich dann für das Ballett der Pariser Oper doch an den sechs Lieder umfassenden sinfonischen Zyklus. Gustav Mahler hatte ihn 1907/08 zu sieben uralten chinesischen Gedichten komponiert. Zu dieser Zeit war er nicht mehr jung, nicht mehr gesund – und hatte den Tod seiner Tochter zu verkraften. Nun nimmt John Neumeier den Stoff mit seinem eigenen Ensemble wieder auf.

Hélène Bouchet, seit 1998 beim Hamburg Ballett, erarbeitet mit dem „Lied von der Erde“ zum dritten Mal eine Choreografie zu Musik von Mahler. Als Erste Solistin ist die Französin in fast allen Neumeier-Balletten sehr präsent. Ihr ernstes, feines Gesicht umrahmen wellige, braune Haare, ihr starker, zarter Körper ist enorm biegsam, sie selbst ist zu größter Hingabe an den Tanz fähig. In „Purgatorio“ tanzte sie 2011 die Alma Mahler, die mit dem Komponisten verheiratet war. „Auch wenn ich jetzt eine andere Figur tanze, greife ich weiterhin auf meine Erfahrung als Alma zurück. Denn ich habe mich sehr mit ihr identifiziert. Und als Mahler ,Das Lied von der Erde‘ komponierte, war Alma trotz Beziehungsproblemen für ihren Mann da.“

Nun verkörpert die Tänzerin eine eher abstrakte Figur, ebenso wie die beiden männlichen Hauptcharaktere. „In dieser Welt der Musik, der Poesie und der Choreografie“, sagt John Neumeier, „kann es im Grunde keine präzise beschreibbaren menschlichen Figuren geben. Gerade in dieser Erkenntnis liegt für mich die Essenz des sinfonischen Tanzes verborgen.“

Bouchet hat sich intensiv mit Mahler beschäftigt

Bouchet tanzt also eine Art Geist, der die Hauptfigur des Stücks begleitet, einen Schutzengel, der hilft, unterstützt, ermutigt; vielleicht eine mütterliche Beschützerin: „Ich empfinde das ein bisschen so wie mit meinen Großeltern. Sie sind zwar gestorben. Aber für mich sind sie dennoch da, ich fühle ihre positive Energie in meiner Nähe.“

In ihrer typischen eleganten Haltung hat Hélène Bouchet nach der langen Probe auf einem Stuhl Platz genommen. Sie trägt einen grauen Rollkragenpulli, schwarze Hose und graue Stiefel, strahlt etwas Würdevoll-Unnahbares aus.

Sie selbst hat sich lange und intensiv mit Gustav Mahler beschäftigt. „Bevor die Proben begannen, habe ich mich auch diesmal gefragt: Was will ich tanzen?“ Um das herauszufinden, erkunde sie grundsätzlich, was die Person, die sie darstellt, an Gefühlen durchläuft. Sie liest Originaltexte, Bücher über das Werk, Biografien. In diesem Fall wollte sie zudem herausfinden, in welcher Lebensphase Gustav Mahler das „Lied von der Erde“ schrieb. „Wenn ich schließlich den Probenraum betrete, bin ich mit dieser ganzen Gedankenarbeit fertig.“

360 Paar Spitzenschule im Jahr

360 Paar Spitzenschuhe verbraucht Hélène Bouchet in nur einem Jahr. An machen Tagen, wenn sie große klassische Ballette tanzt, sogar zwei. Bouchet tanzt charakterlich wie technisch höchst anspruchsvolle Rollen. In John Neumeiers „Turangalîla“, das im Juli Premiere hatte, erreichte sie gemeinsam mit Tänzer Carsten Jung mal wieder einen Höhepunkt in ihrer tänzerischen Laufbahn. „Das ,Lied von der Erde‘ hat aber eine andere Temperatur. Es ist weniger akrobatisch, weniger dynamisch, sehr meditativ, ein intimes, sehr menschliches Ballett“, sagt die Primaballerina. Neumeiers Choreografie vereine die musikalische, die poetische und die auf Mahler bezogene biografische Ebene.

Drei Figuren dominieren das Geschehen auf der Bühne: zwei Männer (Alexandr Trusch und Karen Azatyan als dessen Schatten) und eine Frau. Das „Lied von der Erde“ beschreibt auf die für Mahler typische hoch emotionale Weise eine Art Lebensreise: von der Jugend, dem Frühling, bis zum Herbst, zu Abschied und Tod. Eine mit Rasen ausgekleidete Plattform liegt auf der Bühne stellvertretend für die Natur, die Mahler so sehr liebte und die er immer wieder musikalisch zu beschreiben versuchte.

Ballette werden ständig geändert

Für die deutsche Uraufführung in Hamburg wurde das „Lied von der Erde“ überarbeitet. Aufgabe der Tänzer, sagt Hélène Bouchet, sei es in diesem Prozess zunächst, das choreografische Material zu verstehen. „Danach entwickeln wir unsere eigenen Ideen.“ John Neumeier gebe dabei stets Anstöße in die gewünschte Richtung, sodass Neues entstehen könne. „Keines seiner Ballette landet jemals vollständig abgeschlossen im Wandschrank. Er ändert sie konstant.“ Eine Herausforderung, der sich Hélène Bouchet auch dieses Mal wieder voller Bewegungsfreude stellt.

„Das Lied von der Erde“ Premiere So 4.12., 18.00 Hamburgische Staatsoper, Gr. Theaterstraße 25, weitere Vorstellungen: 6., 9., 13., 15. und 17.12., Karten T. 040/35 68 68