Hamburg. Weil er die Choreografien des Ballettchefs liebt, ist er in die Hansestadt gekommen. Derzeit ist der Tänzer in „Duse“ zu erleben.

Als Karen Azatyan mit 18 Jahren für den Prix de Lausanne vortanzte, hatte er über die technische Perfektion hinaus einen Grad an Bewegungsharmonie und gestischer Schönheit erreicht, die den damals noch zarten Jungen über alle Konkurrenten hinaushob. Er gewann nicht nur den Wettbewerb in Lausanne, sondern auch den zweiten Preis in Berlin beim Tanz-Olymp. Das war vor zehn Jahren.

Nach seinem Studium an der choreografischen Lehranstalt in Jerewan, der Tanzakademie in Zürich und einem Engagement am Bayerischen Staatsballett in München ist der Armenier seit einer Spielzeit Solist beim Hamburg Ballett von John Neumeier.

Die Probe ist gerade zu Ende. In schwarzer Tanzhose und schwarzem Sweater kommt Azatyan zum Gespräch: Voller Wärme sind seine Augen, er spricht leise und sanft. Auf diese Sanftmut ist man so gar nicht gefasst, wenn man sich ihn als testosteronstrotzenden Liebhaber Gabriele d’Annunzio in John Neumeiers jüngster Choreografie „Duse“ in Erinnerung ruft.

In all seinen Rollen hat Karen Azatyan durch eine blitzsaubere Technik und die sehr männliche Erscheinung eine große Bühnenpräsenz, doch als Partner der italienischen Star-Ballerina Alessandra Ferri (als titelgebende Eleonora Duse) hat sein tänzerisches und darstellerisches Können eine neue Dimension erreicht – eine ans Aggressive grenzende, kraftvoll virile Geschmeidigkeit, die mit der Figur des untreuen Frauenhelden verbunden ist.

Auch wenn er zwischendurch gern mal abstrakte Ballette tanzt, mag der 28-Jährige die Handlungsballette am liebsten. Schon in München, wo er mit wichtigen Choreografen wie Jiri Kylian, Mats Ek, Nacho Duato oder William Forsythe arbeitete und große Solorollen wie den Romeo tanzte, hatte er viel mit Handlungsballetten zu tun, er tanzte dort auch in Neumeiers „Kameliendame“ und dessen „Sommernachtstraum“.

John Neumeiers komplexe Choreografien, erklärt Azatyan, hätten eine innere Philosophie, eine Substanz. Weil sie ihn innerlich berührten, sei er nach Hamburg gewechselt. Bei Neumeier habe er erkannt, dass jede einzelne Bewegung ihre Bedeutung hat.

„Wenn ich klassisch tanze, versuche ich, orthodox zu sein. Aber wenn es zeitgenössisch wird, dann öffne ich mich nach allen Seiten, und beides ist mir gleich wichtig“, sagt der Tänzer. Neumeier habe ihm gezeigt, dass es neben der Technik im Tanz letzten Endes immer um das Gefühl und um das Menschliche gehe. „Je menschlicher du bist, desto besser kannst du dich mit dem Publikum verbinden.“

Mit 16 verließ Azatyan seine armenische Heimat und ging an die Züricher Tanzakademie. Er hatte ein Video dorthin geschickt und war daraufhin vom Akademie-Direktor Oliver Matz in die Schweiz eingeladen worden. Mit ihm feilte er an seiner Technik und studierte jene beiden höchst anspruchsvollen Choreografien ein, mit denen er 2005 den Prix de Lausanne gewann.

An Armenien und dessen reiche Tradition an Volkstänzen, mit denen er und sein Bruder Arsen schließlich einmal angefangen haben, kann sich Karen Azatyan nicht so recht erinnern: „Ich habe damals einfach meinen Bruder kopiert, der ja auch so anfing und dann zum klassischen Ballett wechselte. Am Anfang ging es uns nur um die Technik, denn in jungen Jahren weiß man nicht viel über das Leben, über Gefühle.“ Videos des Tänzers Mikhail Baryshnikov hat er damals voller Bewunderung angesehen: „Oh, ja, das willst du auch können, sagte ich mir!“

Karen Azatyan (mit
Alessandra Ferri) in
John Neumeiers
Ballett „Duse“
Karen Azatyan (mit Alessandra Ferri) in John Neumeiers Ballett „Duse“ © Holger Badekow

Gegen Ende seiner akademischen Ausbildung in Jerewan war ihm klar, dass es im Tanz nicht primär darum geht, technische Schwierigkeiten zu meistern. Sondern die Herausforderung darin besteht, „im Rahmen der jeweiligen Rolle, der technischen Anforderungen, natürlich und authentisch zu bleiben“.

Privat ist er mit der ehemaligen Tänzerin und vielversprechenden jungen Choreografin Natalia Horecna liiert, und obwohl beide fließend Russisch sprechen, unterhalten sie sich auf Englisch miteinander. In Hamburg hat Karen Azatyan Einzelgänger wie Mercutio oder den Hirten im Weihnachtsoratorium getanzt, abstrakte Rollen wie die „Aggression“ in „Peer Gynt“ oder „Aschenbachs Konzepte“ im „Tod in Venedig“. Jetzt hat John Neumeier eigens für ihn die Rolle des d’Annunzio in „Duse“ kreiert – mit großen Pas de deux. „Ich tanze lieber zu zweit, denn ich liebe den Moment des Teilens, dieses Ineinandergreifen von Aktion und Reaktion. Das fühlt sich jedes Mal frisch an, absolut gegenwärtig.“ Der große Rudolf Nurejew (1938–1993) ist für ihn noch immer eine große Inspiration: „Er war immer der Prinz. Aber mit dieser animalischen Wildheit.“

14 Ballette hat Azatyan in der vergangenen Spielzeit eingeübt. Manche davon dauern dreieinhalb Stunden. Da kommt selbst ein so junger wie inzwischen erfahrener Tänzer an seine Grenzen. Doch Karen Azatyan hat verinnerlicht, was Neumeier seinem Ensemble mitzuteilen versucht: „Jede Vorstellung ist die Vorstellung. Halte nichts zurück, sei ganz im Moment.“ In diesem Bewusstsein gelinge es plötzlich, nach fünf Soli noch zwei Pas de deux zu schaffen.

An seine Heimat Armenien, ein Land mit einer der ältesten Tanztraditionen der Welt, denkt Azatyan nicht mehr oft. Zwölf Jahre war er nicht mehr dort, weil man ihn sonst zum Militärdienst eingezogen hätte. Aber seine Mutter war gerade länger in Deutschland zu Besuch. Und sein Bruder Arsen, der beim Ballett in Dortmund tanzt, reiste zur Hamburger „Duse“-Premiere an. Gegenseitig besuchen die beiden ihre Vorstellungen und tauschen sich auch am Telefon über typische Tänzerthemen und -krisen aus.

Eines hat Karen Azatyan von seinem Lehrer Oliver Matz besonders gelernt: Wenn man mal nicht auf der Höhe sei, dann könne es nicht darum gehen, sich noch mehr anzustrengen, sondern man müsse einen Schritt zurücktreten. Ein Rat, den Azatyan beherzigt, etwa wenn er in seiner Wohnung meditiert, um nach den vielen Rollenwechseln wieder zu sich selbst zu finden.

Vorstellungen mit Karen Azatyan:
Als Gabriele d’Annunzio in „Duse“ am 15./16.1., in „Giselle“ ab 10.2., in „Romeo und Julia“ ab 9.4., in der Matthäus-Passion ab 24.4. und in „Napoli“ ab 20.5. Kartentelefon: 040 /35 68 68Infos: www.hamburgballett.de