Hamburg. Johan Simons’ Inszenierung der Storm-Novelle feierte Premiere – stimmig, gut beobachtet, aber leider etwas langweilig.
Es ist noch gar nicht lange her, da gab es schon einmal einen „Schimmelreiter“am Thalia. Jorinde Dröse inszenierte Anfang 2008 Theodor Storms Novelle am Alstertor, mit dem ihr eigenen Gespür für szenische Aktion, lautstark, actionreich, mit großen Bildern und einer echten Sturmflut, die am Ende die gesamte Bühne unter Wasser setzte. Keine große Inszenierung, aber eine eindrückliche.
Dass Johan Simons nicht lautstark arbeitet, nicht actionreich, und dass er großen Bildern zunächst einmal misstraut, bewies der aktuelle Ruhrtriennale-Intendant schon vor einem Jahr mit seiner Thalia-Dramatisierung von Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“. Entsprechend ist sein „Schimmelreiter“ tatsächlich eine Art Gegenprogramm zu Dröses Wasserschlacht.
Versuch, die Landschaft zu bändigen
Langsam schiebt sich der eiserne Vorhang nach oben und gibt den Blick frei auf einen Deich, auf dessen Krone ein lebensgroßer Pferdekadaver vor sich hin vegetiert. Aber was für ein Deich: Eine düstere Betonwand hat Bettina Pommer gebaut, mehr Mauer als Schutz, die das Meer so erfolgreich draußen hält wie Emotionen oder neue Denkansätze. Deichgraf Hauke Haien jedenfalls stößt mit seinen Erkenntnissen über verbesserten Küstenschutz auf Granit bei den nordfriesischen Quadratschädeln – weswegen sollte man im flacheren Winkel bauen, wenn der steile Deich schon seit 30 Jahren hält? „Hamwa schon immer so gemacht!“ ist ein fatales Konzept, wenn es um die Weiterentwicklung der Gesellschaft geht, aber Weiterentwicklung will ja auch niemand in diesem Fischerkaff, wo Traditionen hochgehalten werden und Glaube wie Aberglaube den Alltag strukturieren.
Simons weiß, wovon er erzählt. Der Regisseur, geboren 1946 im südholländischen Heerjansdam, erlebte als Siebenjähriger die schwere Sturmflut Watersnood. Schon die „Deutschstunde“ war eine Inszenierung, die von einem genauen Gespür für die norddeutsche Landschaft lebte, mit ihren ständig an- und abschwellenden Fluten. „Der Schimmelreiter“ ist ein Schritt weiter, der Versuch, diese Landschaft zu bändigen. Ein Versuch, der schließlich an provinzieller Engstirnigkeit scheitern muss. Diese Engstirnigkeit ist Simons ebenfalls bekannt, Simons, der einerseits zu den prägenden Theatermachern Europas zählt, der demnächst die Intendanz in Bochum übernehmen wird, und der dennoch weiterhin abseits der Metropolen lebt, in Gelderland.
Selbst der Tanz beim Dorffest ist ein dumpfes Rumstehen
Das Problem dabei: Die Geschichte, die der Abend erzählt, mag auf genauer Beobachtung gründen, mag vielschichtig und stimmig sein, aber es bleibt eine alte Geschichte. Der intelligente Neuerer, der sich an einer allem Neuen verschlossenen Gemeinschaft eine blutige Nase holt – das ist bekannt. Und angesichts der Tatsache, dass einem die zurückhaltende Regie praktisch alle Schauwerte (die der Stoff ja durchaus hergeben würde) verweigert, ziehen sich die über drei Stunden spürbar. Zumindest die Schauspieler geben ihr bestes, den Abend nicht allzu lang erscheinen zu lassen: Jens Harzer spielt den Deichgrafen mit der für ihn typischen Mischung aus Arroganz, Mitgefühl und Kälte als Analytiker, der weiß, dass er recht hat, und der nicht versteht, weswegen er damit bei seinem Gegenüber nicht durchdringt. Sebastian Rudolph gibt Haiens Gegenspieler Ole Peters als rattenhaft Lauernden, der gleichwohl keine durch und durch negative Figur bleibt – tatsächlich weiß auch Peters, dass sich etwas ändern muss, aber er hat sich damit abgefunden, dass er Änderungen nicht durchsetzen kann.
Ohnehin zeigt die Tatsache, dass die Figuren allesamt vielschichtig sind, dass es keine Guten und keine Bösen gibt, sondern nur Unfähige, wie genau Simons seine Schauspieler zu führen in der Lage ist. Großartig die Szene, als Haien die Hand zu seiner Frau Elke (Birte Schnöink) ausstreckt, und sie kaum merklich unter der zaghaften Berührung zusammenzuckt. Gefühle sind fremd in dieser Welt, in der selbst der Tanz beim Dorffest nur ein dumpfes Rumstehen in der Kälte ist und die Körper gefangen sind in schlichten, schwarzen Kleidern (Kostüme: Teresa Vergho).
Figuren sind zart gezeichnet
Aber so zart die Figuren gezeichnet sind, das Grundproblem des Abends bleibt seine Ereignislosigkeit. Immer wieder beginnt Harzer, die Handlung zu referieren. „Das Jahr, von dem ich erzähle, ist das Jahr 1756, das in unserer Gegend nie vergessen wird.“ Jedes Mal mit minimal verschobenen Figurenkonstellationen, jedes Mal mit minimal verändertem Tonfall. Und wenn dann doch einmal etwas passiert, dann in der Mauerschau, beziehungsweise hier in der Deichschau. Aber man kann der Inszenierung nicht einmal böse sein: Das ist ja stimmig, es ist durchdacht, es ist nicht zuletzt ein Anknüpfungspunkt an die Novellenstruktur von Storms Vorlage. Es ist nur, leider, ein wenig langweilig. Wie ein Stück, in dem ständig der Sturm tost und das Wasser rauscht, nur so trocken daherkommen kann!
Am Ende dann, als der Deich gebrochen, der Koog geflutet und die Familie ertrunken ist, wagt Simons dann doch noch eine radikale ästhetische Setzung. Aus den Boxen dröhnt Jimi Hendrix’ „Voodoo Child“, Harzer steht nackt, alleine, gescheitert auf der Bühne, und hinter ihm hebt sich die Deichkrone immer höher, immer steiler. „I pick up all the pieces and make an island/ (…) ’cause I’m a voodoo child“. Ein zaghaftes „Buh!“ aus dem Publikum, dann freundlicher, ermatteter Applaus. Man kann nicht anders: Man muss die Konsequenz honorieren, mit der sich Simons auf diesen langen, anstrengenden, kräftezehrenden Abend eingelassen hat.
Weitere Termine: 2., 10., 18., 26.12., Thalia