Hamburg. Johan Simons inszeniert Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. Ein Gespräch über Glauben, Strenge, Kindheit – und die Flut.

Johan Simons ist eine Erscheinung. Ein milder Riese. In seinen Worten verbinden sich Gedankenschärfe und eine zärtliche Sanftheit. Der holländische Regisseur inszeniert nach Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ zum zweiten Mal am Thalia Theater. Wieder einen ausgesprochen nordischen Heimat-Stoff und wieder Prosa: Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“. Premiere ist am Freitag, 25. November.

Auf den ersten Blick geht das nicht zusammen. Doch bei genauem Hinsehen ist die Novelle ein Muss für einen wie Simons. „Wenn man in einem Dorf an einem Fluss aufgewachsen ist und eine Springflut erlebt hat, dann ist das der richtige Stoff“, sagt Simons. „Wenn dann noch der christliche Glaube dazukommt, ist es perfekt.“ Simons war sieben Jahre alt, als die Flut in Holland 1953 Tausende mit sich riss und auch in sein Heimatdorf Heerjansdam kam. „Wo vorher Wiese war, war nur noch Wasser, wenn ich aus dem Fenster sah. Da wurde ich euphorisch und dachte: Gott existiert. Es gibt nur einen, der so etwas vollbringen kann.“ Das Gefühl hielt nicht an.

Simons kämpft bis heute gegen seine Todesangst

Diese dramatische Erfahrung, eine entbehrungsreiche, streng christlich ­geprägte Kindheit und die frühe Verantwortung für seinen lungenkranken ­jüngeren Bruder lassen Simons bis heute mit Therapien gegen seine Todesangst kämpfen. „Die Flut hat meinem Leben eine völlig neue Wendung gegeben“, sagt er.

Theodor Storms Novelle ist ein Werk des Realismus, in dem der kluge Hauke Haien früh seine Lust am Amt des Deichgrafen und an der Konstruktion eines neuen Deiches entdeckt und hart darauf hinarbeitet. Ein eigenwilliger Ehrgeizling, der die Macht der Natur brechen will und am Ende die Unwägbarkeiten der Natur und den Zorn der abergläubischen Dorfgemeinschaft zu spüren bekommt.

Der Niederländer schwärmt von der nordischen Landschaft

Die nordische Landschaft ist omnipräsent in der Novelle. Simons schwärmt von der Landschaft, von der Linie, an der Wasser und Horizont miteinander verschmelzen. „Eigentlich ist so eine Landschaft ein leeres Blatt Papier. Aber da steht viel drauf. Das ist eine Frage des Sehens.“ Nicht umsonst habe Holland viele sehr gute Maler hervorgebracht.

Ihn zog es zum Theater. Er war Tänzer, Schauspieler, leitete ein freies Ensemble, schließlich das Stadttheater NTGent. Bald gastierte er in Deutschland, wo er schließlich von 2010 bis 2015 sehr erfolgreich die Münchner Kammerspiele leitete, formal und international öffnete, mehrfach mit Preisen dekoriert wurde. Bis 2017 leitet er die angesehene Ruhrtriennale, anschließend übernimmt er die Intendanz des Bochumer Schauspielhauses. Deutschland ist ihm längst eine lieb gewonnene zweite Heimat geworden.

Simons ist ein erfahrener Theatermann

Simons ist ein erfahrener Theatermann, den neue Formen, die Verbindung von Schauspiel mit Tanz und Musik, genauso interessieren wie die klassischen großen Fragen. Das Theater ist für ihn einer der wenigen Orte, wo Leute noch zusammenkommen und Gemeinschaft leben. „Das ist ein wichtiges Ritual, weil ich mich auf eine gedankliche Ebene einlassen muss. Ich mache Theater, weil ich im Probenraum am ehesten ich selbst sein kann. Das Fiktive bringt die Erlösung“, sagt Johan Simons. „Im Probenraum bin ich dicht an Gott dran, der aber nicht existiert. Und wenn ich herauskomme, ist das Leben dort weniger gut, als ich gedacht habe.“ Die Verantwortung vor Gott, die Rechtfertigung vor seinem Thron in der Stunde des Todes sind Fragen, die Johan Simons unermüdlich beschäftigen.

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Glauben für viele Menschen wieder eine wichtige Rolle spielt und in seinem Namen Menschen ermordet werden“, sagt er. „Ich finde es gut, dass wir schauen, wo wir herkommen, eine Per­spektive geben.“ Der „Schimmelreiter“ ist dem Realismus verpflichtet und wird gleichwohl durch eine gewisse Magie überhöht.

„Hauke Haien wird über diese Magie zu einem Teufel gemacht“, sagt Johan Simons ernst aus seinen tief liegenden Augen. Außerdem behandele Storm das Verhältnis zu Tieren sehr glaubwürdig. „Das ist heute so gut wie verschwunden. Man erlöst keinen verletzten Vogel mehr.“ Mit einem Akt der Gewalt natürlich. Simons hat das als Kind noch gelernt. Andere Dinge hat er lernen müssen, die er im brutalen bäuerlichen Alltag lieber nicht erfahren hätte.

Ein Abend, der Konzentration verlangt

„Hauke Haien ist sehr klug, sieht mehr als die anderen. Er ist sehr mit der Natur verbunden, die ihm Trost brachte. Aber das ist den Leuten im Dorf ziemlich fremd“, sagt Johan Simons. „Er ist auch verschlossen, eigenbrötlerisch und trägt Geheimnisse mit sich herum, die er vielleicht selbst nicht einmal kennt.“ Für Simons ist er ein Erlöser. Ein Weltveränderer. In der Inszenierung übernimmt Jens Harzer diese Rolle. Und etwas Besseres hätte ihm als Regisseur nicht passieren können. Das gelte im Übrigen für die gesamte Besetzung.

Simons’ Inszenierung der „Deutschstunde“ war streng, sie war auf das Wort bedacht, weniger auf die Aktion. „Diese Arbeit ist viel schweigender, obwohl es viel Text gibt“, so Simons. Es wird sicherlich ein Abend, der Konzentration verlangt. Dann kann ein Regisseur wie Johan Simons seine Zuschauer in Gefilde führen, die sie vorher, wie die Hauptfigur, vielleicht nicht einmal erahnt haben.

„Der Schimmelreiter“ Premiere Fr. 25.11., 20.00 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten 10 bis 52 Euro unter T. 32 81 44 44