Hamburg. Nächste Woche feiert Udo Lindenbergs große Show „Hinterm Horizont“ Hamburg-Premiere. Wie kam es zum Erfolg?

Udo Lindenberg hatte nicht nur ein Mädchen in Ostberlin, sondern auch ein Musical. Fünf Jahre lief „Hinterm Horizont“ im Theater am Potsdamer Platz, jetzt kommt die hinter dem bröckelnden Eisernen Vorhang spielende autobiografische Liebesgeschichte am 10. November nach Hamburg ins Operettenhaus. Wir trafen Regisseur und Co-Produzent Ulrich Waller, Theatermacher und Intendant des St. Pauli Theaters, auf dem Kiez. Er erzählt von legendären Treffen im Atlantic, nächtlichen Autofahrten und dem langen Weg zu einem Musical, dessen Erfolg nur einen nicht überraschte: Udo Lindenberg.

Herr Waller, nach fünf erfolgreichen Jahren und zwei Millionen Zuschauern in Berlin kommt das Musical „Hinterm Horizont“ nach Hamburg. Stimmt es, dass es ursprünglich als Stück in „Ihrem“ St. Pauli Theater geplant war?

Ulrich Waller: 2001 saßen Udo und ich zufällig auf einem Flug nach Wien zu Peter Zadeks 75. Geburtstag nebeneinander und haben uns zum ersten Mal unterhalten, dass man aus seinen Songs mehr machen kann als nur ein Konzert. Daraus wurden nächtliche Besuche im Hotel Atlantic, nie vor zwei Uhr, die zu scheinbar ziellosen Autofahrten im Schritttempo – Udo muss ja alles checken – durch die verstecktesten Ecken der Stadt führten. So entstand neben „Atlantic Affairs“ auch die Idee für ein Lindenberg-Musical.

Damals war Udos Karriere allerdings nicht gerade auf dem Höhepunkt.

Waller: Ja, das stimmt. Wir haben sozusagen im Verborgenen gearbeitet und lange überlegt, was der Dreh- und Angelpunkt eines Udo-Musicals sein könnte, und irgendwann war klar: Es gibt noch kein Musical über die Wiedervereinigung, dem größten historischen Moment der bunten Republik.

Neben dem „Wunder von Bern“.

Waller: Genau. Aber das St. Pauli Theater war Udo zu klein. „Think big“ war schon immer seine Devise. Und zufällig suchte Stage Entertainment seinerzeit für das Berliner Theater am Potsdamer Platz einen Stoff. Das wurde auch Udo zugetragen. Ihm entgeht ja nichts. Er sagte dann: „Komm, die Geschichte spielt eh zu großen Teilen in Berlin, lass uns nach Berlin gehen.“ Mit der Bedingung, dass das ganze Kreativ-Team vom St. Pauli Theater kommt.

Wie war es denn für Sie als Privattheater-Mensch, mit unendlichem Budget arbeiten zu dürfen?

Waller: Also im Nachhinein würde ich sagen, dass das Budget für unser Musical eher klein war. Udo war immer ein wenig enttäuscht, dass es in einer Demo-Szene so wenig Demonstranten gab, und wollte das ganze Vorderhauspersonal mit auf die Bühne schicken. Wir haben dann versucht, ihm zu erklären, dass es da doch schon eine Choreografie gibt und man nicht jeden Abend die Leute, die jetzt zufällig die Karten abreißen, mit auf die Bühne holen kann.

Musicals wecken ja auch gewisse Erwartungen beim Publikum.

Waller: Ja, zum Beispiel wurde mir erzählt, dass als Erstes eine große Ensemble-Szene kommen muss. Also habe ich das schon mal nicht gemacht. Am Anfang steht ein einzelner Mann auf dem Hut von Udo und singt „Mädchen aus Ostberlin“ und gibt so das Thema vor. Wir hatten uns diverse Musicals angeschaut, zum ­Beispiel „Billy Elliot“ in London, das mich sehr berührt und inspiriert hat. Ein Junge aus dem Bergarbeitermilieu will Ballett tanzen, und das vor dem Hintergrund der letzten Kämpfe der englischen Bergarbeiter-Bewegung in der Thatcher-Ära.

Haben Sie mit dem Erfolg von „Hinterm Horizont“ gerechnet?

Waller: Überhaupt nicht. Berlin gilt für Musicals als ein ganz schlechtes Pflaster, da funktioniert eigentlich fast gar nichts. Ich hatte gedacht, nach einem Jahr ist das durch, aber Udo hatte wie immer seinen ganz eigenen Plan: „Nein Uli, da täuscht du dich, das wird fünf Jahre laufen.“

Wäre „Hinterm Horizont“ möglich gewesen ohne das Comeback 2008 mit dem Album „Stark wie zwei“, seinem ersten Nummer-eins-Album überhaupt?

Waller: Natürlich hat uns geholfen, dass er plötzlich zurück war wie „ein Phoenix aus der Flasche“, so beschreibt er das selbst. Wir mussten das Musical auch ein bisschen schieben, weil das Album und die Tournee Vorrang hatten. Manchmal sitzt er jetzt schräg gegenüber vom Operettenhaus in der Raucherlounge vom Hotel Imperial, guckt auf das riesige „Hinterm Horizont“-Plakat und freut sich.

Was haben Sie persönlich noch bei der Schöpfung von „Hinterm Horizont“ lernen können?

Waller: Ich wusste nicht, welchen Einfluss Udo in der DDR hatte, was für eine unterschiedliche Projektionsfläche von Wünschen er war. „Gegen die Strömung“ und viele andere Lieder wurden im Osten vollkommen anders gehört und gefühlt als im Westen. Diese Songs zu „stagen“, also aus Liedern und ihren Geschichten auch eine Choreografie und die Lieder so noch größer zu machen, war schon eine tolle Erfahrung.

Think big.

Waller: Ja. Think big.

Gab es auch „Einer muss den Job ja machen“-Momente?

Waller: Es gab schon Phasen, wo sich plötzlich alle möglichen Leute aufgerufen fühlten, auch Vorschläge zu machen, und seien sie noch so schwachsinnig. Mein Lieblingssatz war: Da denke ich drüber nach. Ich wusste bei fast allen Rollen eigentlich schon sehr früh, wer die Premiere spielen würde. Wir haben uns zehn Tage lang auf der alten Probebühne der Staatsoper am Schlicksweg eingeschlossen. Danach war das Stück in seinen Grundzügen fertig.

Wie hat Udo Lindenberg reagiert, als er die Rohfassung gesehen hat?

Waller: Er war etwas verwirrt, dass die Inszenierung schon weitgehend stand. Der Udo-Darsteller Serkan Kaya war nur zwei Tage da, den habe ich bei der Präsentation irgendwie durchgeführt. Und dann kam dieser magische Moment, als Udo sich selber als Bühnenfigur sah, sein eigenes Leben, seine Sätze, und das nicht als Parodie wie bei Doppelgängern, sondern als abgelöstes Ich. Das konnte er fast nicht aushalten, weil es ihm so naheging. Danach hat Udo Serkan quasi adoptiert. So etwas hatte ich im Theater noch nie erlebt.

Die Handlung von „Hinterm Horizont“ bekommt am Operettenhaus mehr Hamburg-Anteil?

Waller: Die Parallelgeschichte „Udo in Hamburg“ gehörte schon immer dazu. Aber zwei Drittel spielen in Berlin, und das werden wir auch nicht ändern, denn das „Mädchen aus Ostberlin“ ist eben aus Ostberlin und nicht aus Wilhelmsburg, Jenfeld oder einem grenznahen Dörfchen bei Lübeck. In Berlin fiel die Mauer. Aber Hamburg wird öfter auftauchen. Es gibt im Atlantic-Abschnitt ein Medley, in dem Udo erklärt, wie er angefangen hat. Dazu wurden eine Menge Filmmaterial aus der Zeit vom Onkel Pö und frühe Songvideos etwa zu „Alles klar auf der Andrea Doria“ aufgestöbert. Auch zwei Lieder des neuen Albums haben wir mit eingebaut, und am Ende geht es mit dem passenden Song raus auf die Reeperbahn.

Es gibt ja zwei Lieder von Udo über die Reeperbahn, ein kritisches von 1978 und ein romantisierendes von 1989. Welches trifft denn den aktuellen Kiez besser?

Waller: Das zweite. Kürzlich haben Udo und ich uns ein Super-8-Video zu der ersten Version aus den 70er-Jahren angeschaut, wo er mit einem Straßenkreuzer über den total verrotteten Kiez fährt. Als ich Ende der 70er nach Hamburg kam, war St. Pauli wirklich genau so. Jetzt lebt die Meile, es gibt viel mehr Theater und Unterhaltungskultur als versiffte Pornokinos. Und man sollte nicht einen Sonnabend im Hochsommer, wenn ganz Pinneberg hier zu Gast ist, als Maßstab nehmen. Das Viertel hat sich erholt, und das zweite „Reeperbahn“-Lied trifft das besser.

Sie arbeiten tagtäglich auf dem Kiez. Haben Sie Tipps für den klassischen Musical-­Touristen, der mal über die „Geile Meile“ butschern möchte?

Waller: Auf jeden Fall ins Pulverfass, da hat man großen Spaß. Und wenn man jünger ist, sollte man die ungezählten Musikclubs vom Molotow bis zur Großen Freiheit 36 besuchen. Und man sollte in eine Bar ­gehen, statt sich ein Dosenbier im ­Discounter zu holen.

„Hinterm Horizont“ Preview So 6.11., 17.00, Premiere Do 10.11., 19.00 (ausverkauft), weitere Vorstellungen bis 30.7., Di–Mi 18.30, Do–Fr 19.30, Sa–So 14.30, 19.30, Karten ab 49,90 unter T. 01805 44 44 oder unter www.stage-entertainment.de oder unter der Abendblatt-Tickethotline 30 30 98 98 und in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32.