Hamburg. Zum 70. Geburtstag von Elfriede Jelinek geht am heutigen Donnerstag die letzte Vorstellung über die Bühne.
Flucht und Migration sind in Hamburg nicht erst seit dem Herbst 2015 ein Thema. 2013 gab es eine Gruppe von 300 Geflüchteten, die über das italienische Lampedusa nach Hamburg gelangte und ein kollektives Bleiberecht forderte. 80 von ihnen suchten und fanden Asyl in der St. Pauli Kirche von Pastor Sieghard Wilm.
Das Thalia Theater initiierte im September 2013 die Urlesung eines Textes: „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek, basierend auf vergleichbaren Ereignissen in Wien. Mit einer Wortlawine klagte die österreichische Literaturnobelpreisträgerin die europäische Flüchtlingspolitik an. Regisseur Nicolas Stemann inszenierte die Uraufführung im Frühjahr 2014 erst beim Festival Theater der Welt in Mannheim, dann am Thalia Theater. An diesem Donnerstag geht die letzte Vorstellung über die Bühne. Pünktlich zum 70. Geburtstag der Autorin, der das Theater gleich ein ganzes Wochenende widmet.
In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Welt dramatisch gewandelt. Der Herbst 2015 mit seinen Migrationsbewegungen war zur Zeit der Premiere nicht absehbar. In Stemanns Inszenierung treten Schauspieler auf. Aber auch Geflüchtete der Lampedusa-Gruppe. Die Frage, wer hier eigentlich für wen die Stimme erhebt, stand schnell im Raum. Das sei ein Lernprozess gewesen, erzählt Ensemblemitglied Sebastian Rudolph. „Die Inszenierung konnte gelingen, weil die Geflüchteten neben den Jelinek-Passagen vor allem ihre eigenen Texte sprechen.“
Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen
Das Grundproblem, dass teilweise weiße Schauspieler die Stimme für farbige Geflüchtete erheben, hat Stemann bewusst in die Inszenierung eingebaut: „Als Literatur funktioniert der Text wunderbar. In dem Moment, wo man ihn auf die Bühne stellt, hat man ein Dilemma, und es lässt sich nicht wirklich lösen.“ Ihm sei es um die Auseinandersetzung mit versteckten Rassismen, verstecktem kolonialen Denken gegangen.
Politisch, so sagt er, wäre es falsch gewesen, bei der akuten Lage in der St. Pauli Kirche nicht die Geflüchteten selbst auf die Bühne zu stellen. „Ich wollte nicht den Text, der von ihrem Kampf um Sichtbarkeit erzählt, dazu benutzen, sie unsichtbar zu machen und hinter Schauspielern zu verstecken“, so Stemann. In der Wiederaufnahme hat er sich allerdings von einer Szene verabschiedet, in der Weiße ihre Gesichter schwarz färben und Schwarze weiß. „Wir haben ,Blackfacing‘ ausgestellt, um Rassismus und Ignoranz zu kritisieren. Ich habe aber lernen müssen, dass dieses Zeichen so vergiftet ist, dass es völlig egal ist, in welchem Kontext man es verwendet. Wir wollten nicht, dass sich Leute vor den Kopf gestoßen fühlen, die ansonsten viel mit dem Abend anfangen konnten.“ Stemann fand starke Bilder für den Text. Die Inszenierung wurde zum Theatertreffen eingeladen.
Pastor Sieghard Wilm ist bis heute dankbar. „Die Intervention des Thalia Theaters und die Urlesung in der Kirche waren ein Riesengeschenk für uns, ein Akt der Solidarität, den wir in der Zeit brauchten“, sagt er. „Ich glaube, dass in der damaligen Stimmung die Lesung und die Inszenierung früher als in anderen Städten dazu beigetragen haben, dass wir hier in Hamburg eine gute Diskussion geführt haben. Das hat eine Basis geschaffen für die Bürgerbewegung, die 2015 bereit war anzupacken.“ Teil der Inszenierung waren von Anfang an Gruppengespräche mit den Darstellern nach der Vorstellung. Sie zeigten durchaus kontrovers die Ratlosigkeit angesichts der Lage. „Bei einigen Zuschauern haben sich über die direkte Begegnung mit den Geflüchteten die Fragen und Ängste aufgelöst. Sie haben sie als Menschen wahrgenommen“, sagt Sebastian Rudolph.
Räume fürs Nachdenken
Inzwischen ist die Geschichte über die Produktion hinweggegangen. „Es sind längst andere Schutzbefohlene gekommen, die in der Inszenierung keine Stimme haben. Da fängt die Aufführung an, nicht mehr ganz zu stimmen, auch wenn wir versucht haben, neue Jelinek-Texte einzubauen“, sagt Rudolph. Ähnlich sieht es Regisseur Stemann. „Die Gefühlslage hat sich immer wieder verändert, sodass man darauf inszenatorisch reagieren müsste.“ An die Stelle der „Refugees welcome“-Begeisterung seien Ressentiments getreten. An den Münchner Kammerspielen hat Stemann kürzlich eine siebeneinhalb Stunden dauernde Urlesung mit allen von Jelinek verfassten Folgetexten eingerichtet.
Für alle Beteiligten ist das Theater ein Kunstort, der Räume fürs Nachdenken über Politik öffnen kann – auch wenn die Akteure nicht nur Zuspruch ernten, sondern bisweilen Wut und Hass zu spüren bekommen. Thalia-Intendant Joachim Lux: „Ich fand schon die Urlesung total richtig, weil Theater im besten Fall ein politisches Eingreifinstrument ist. Das humanitäre, künstlerische Engagement hat in der Stadt geholfen, eine Deeskalation zu betreiben.“
Das Thalia Theater sammelte mehr als 100.000 Euro für die Lampedusa-Flüchtlinge, Bürgermeister Olaf Scholz hielt eine Grundsatzrede, die von Autonomen beinahe verhindert wurde. Die Mitwirkung der Geflüchteten auf der Bühne wurde durch eine geänderte Rechtsprechung in letzter Minute gesichert. „Ich lasse mir die humanitäre ‚Naivität‘ nicht verbieten. Das künstlerisch auf die Bühne zu bringen ist sowieso richtig. Umgekehrt heißt das aber nicht, auf Widersprüchlichkeiten und Kompliziertheiten der Fragestellung zu verzichten“, sagt Joachim Lux.
Die Lampedusa-Gruppe existiert noch in Teilen. Wenige haben einen positiven Bescheid ihrer Einzelfallprüfung, andere lehnten diesen Weg ab. Verschiedene Seiten versuchten die Gruppe politisch zu vereinnahmen. Die „Schutzbefohlenen“-Akteure Andreas Listowell und Haruna Mutari arbeiten heute als Kartenabreißer am Thalia Theater. Die vergangenen zwei Jahre haben die Stadt verändert. „Die Bürger haben sich als krisenfähig erwiesen“, sagt Sieghard Wilm. Das sei auch der Kunst zu verdanken.
„Die Schutzbefohlenen“ Do 20.10., 20.00, Thalia Theater, Karten: T. 32 81 44 44