Hamburg. Ein Gespräch mit Igor Levit über die Aufgaben von Musik und Politik und warum er seine “Lulu“ wochenlang nicht gesehen hat.

Der Pianist Igor Levit, 28 Jahre jung, ist schon seit Langem enorm beschäftigt. In den letzten Jahren hat er eine steile Karriere gemacht, die meisten Kritiken sind mehr als euphorisch. Seinen Flügel „Lulu“ in der Berliner Wohnung? Wochenlang nicht gesehen. Kürzlich wurde seine Einspielung mit Variationen von Bach, Beethoven und Rzewski vom „Grammophone Magazine“ als „Record of the Year“ ausgezeichnet. Im Oktober gibt er drei Konzerte in Hamburg – einen Soloabend und zwei Konzerte mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Die aktuell im Kino laufende Dokumentation „The Music of Strangers: Yo-Yo Ma and the Silk Road Ensemble“, die Geschichten von Musikern aus aller Welt erzählt, ist ideal als Thema für ein Gespräch über Musik und die Welt.

In diesem Film wird gezeigt, dass Fremde, über viele Grenzen hinweg, miteinander Musik machen können – was bedeutet das für Sie?

Igor Levit: Im ganz Großen ist das eine der Visionen, die dafür sprechen, was der italienische Komponist Bu­soni 1916 geschrieben hat: dass ­Musik, die fliegen will, von den „Gesetzgebern“ eingesperrt wird, die ihr ­Titel, Namen, Normen, Formen geben wollen. Wir sind noch immer umgeben von ihnen, zu den schlimmsten zählen manche Musiker selbst. In diesem Film aber sieht man Musiker, die das nicht tun. Das ist, blöd gesagt, ganz schön zeitgemäß, und weniger blöd gesagt: sehr notwendig.

Der weltbekannte Cellist Yo-Yo Ma sagt, er habe nie Musiker werden wollen, er sei da irgendwie reingeraten.

Kann ich total nachvollziehen. Jemand, der mir sagt, er möchte Musiker werden, sollte es nicht tun. Du wirst es mit aller Dringlichkeit und Notwendigkeit, aber du machst daraus keinen Plan.

In einer Szene erzählt Ma den Witz vom Sohn, der zum Vater sagt: Wenn ich erwachsen bin, will ich Musiker sein. Der Vater sagt: Beides zusammen geht nicht.

Einverstanden. Was Yo-Yo Ma tut, und deswegen ist er ja einer meiner Helden: Dieser Mann ist so wahnsinnig neugierig. Das ist einfach essenziell, politisch und künstlerisch sowieso. Da ist die Realität aber oft sehr ernüchternd.

Und schon sind wir beim Thema Politik und Kunst?

Wir sind doch irgendwie immer „bei diesem Thema“. Manchmal werden Konzertprogramme entworfen mit dieser Denke: Hier auf dem Globus ist Europa – und irgendwo da hinten ist der ganze Rest. So funktioniert das aber nicht! Nicht mehr!

Wenn man so denken und handeln will, hieße das nicht: Keine Mozart-Konzerte mehr in der Berliner Philharmonie – ich fahre jetzt in ein Dorf ganz weit hinten in China und treffe dort lustige Senioren, die in der zwölften Generation Handpuppen basteln und die ihre Musik dazu spielen?

Mein Plan ist ein etwas anderer: So viel wie möglich zu reisen, Länder und Orte zu besuchen, die wir „Klassik-Macher“ so nicht auf dem Schirm haben, das ist ein nächstes Etappenziel. Menschen treffen, Musikern begegnen, erleben, was Menschen außerhalb unseres doch so engen Horizonts tun, wie sie Musik erleben, machen, gestalten. Dieser Plan ist für mich relativ neu. Aber so sieht meine Utopie von Integration aus: Ich möchte gerne Menschen begegnen, damit wir voneinander lernen. Erst dann entwickelt sich etwas Neues, Lebendiges. Deswegen höre ich aber nicht auf, Mozart in Berlin zu spielen.

Mich hat im Film beeindruckt, wie sehr die Musiker an ihrer Musik festhielten. Ein Iraner verließ seine Heimat, schlug sich in New York als Taxifahrer durch, ging zurück, Revolution, er musste wieder weg. Verglichen mit solchen Schicksalen kommt mir manches von unserem Wertekanon hier sehr hochnäsig vor.

Schwierig ... Ich wünsche niemandem so eine Realität. Aber unsere Wirklichkeit hier ist aus ganz anderen Gründen voller Hochnäsigkeit. Wir können nicht ständig davon reden, Musik ist Musik ist Musik, und dann aber die uns – aus welchen Gründen auch immer – fremde Musik ins Sonderprogramm, Sonntag, 23 Uhr, verbannen. Das geht nicht!

Musiker aus anderen Kulturen zu sehen macht bescheiden. Kunst eröffnet Möglichkeiten, sagte einer, und die führen zu Hoffnung. Nur ums Musikhören geht es dann sehr schnell nicht mehr.

Klar. Es geht um Elementares. Ich war im Mai mit einem Freund in Griechenland, im Flüchtlingslager Idomeni. Da ist man als Mensch und erlebt das Elementarste nicht mehr: aufzuwachen und irgendeine Art von Plan zu haben. Die Menschen dort dürfen quasi überhaupt keine Pläne mehr haben! Sie können nur sitzen, warten, schlafen, sitzen, warten, schlafen. Ein Mensch wird durch eine politische Entscheidung quasi zum Scheitern gezwungen. „Ich will nur mal nette Musik hören“ funktioniert nicht. Für jeden Flüchtling, mit dem ich seither sprach, scheint dieser Blick auf Musik geradezu unvorstellbar grotesk.

Ich hätte ein schlechtes Gewissen, denn ich kann wieder zurück in meine Welt.

Das ist nicht richtig. Schlechtes Gewissen bringt nicht weiter. Man fährt zurück und hat dann eben eine Aufgabe. Es ist deine Entscheidung, was du daraus machst. Ich habe monatelang versucht, jemandem zu helfen, dort herauszukommen, es hat nicht funktioniert. Das ist wahnsinnig frustrierend.

Können Sie sich danach an den Flügel setzen und eine Beethoven-Sonate spielen?

Soll ich mich wie ein Schaf, dessen Herde angegriffen wurde, hinlegen und sterben? Natürlich kann man Beethoven spielen. Muss man auch. Und man sieht auch, wozu Neugierde führen kann. Ein Projekt wie Yo-Yo Mas „Silk Road Project“ – das sind meine Helden!

Dann ahne ich Pläne in der Schublade ...

Absolut! Die Schublade ist schon halb geöffnet. Erst mal reisen, zwischen Konzerten, dann werde ich sehen. Musik ist unsere Möglichkeit, von- und miteinander zu lernen. Sie hinterfragen, kaputt machen, neu aufbauen – wir können und müssen ja mit ihr arbeiten. Sie ist hoch lebendig! Das aber tun wir zu selten. Wir stecken sie in lustige Rahmen und Räume: Heute Beethovens Sinfonie an einem „außergewöhnlichem Ort“, doch an die Sinfonie selbst gehen wir gar nicht ran. Mir ist egal, ob ich sie auf der Toilette von einem Restaurant höre oder in einem Konzertsaal – ich möchte mich mit dem Werk beschäftigen! Das passiert noch zu wenig.

Der syrische Klarinettist Kinan Azmeh stellt in „The Music of Strangers“ die Frage: „Kann Musik eine Kugel aufhalten?“

Nein, kann sie nicht. Ein Mensch kann eine Kugel aufhalten und dabei draufgehen. Da merkt man auch, wie absurd diese Frage ist: Was kann Musik ändern? Grotesk. Menschen können etwas ändern. Aber auch die schlimmsten haben Musik geliebt.

Sagt der Pianist, der dem „Tagesspiegel“ erklärte, er sei der, der das Maul zu weit aufreißt und ein AfD-Mitglied „widerwärtigen Drecksack“ nannte.

Nun ja, ich haue einen raus und sehe dann, was es macht. Ich habe eine Position, und die äußere ich. Wenn es zurück kommt, kommt’s halt zurück.

Die rührendste Szene im Film: Kinan ­Azmeh will in ein Flüchtlingslager nach Jordanien reisen, stopft Blockflöten in seinen Koffer, sagt, das sei das erste Mal, dass er Blockflöten schmuggeln würde. Dann ist er dort und spielt für die Kinder. Und man sieht, wie in deren Augen die Scheinwerfer angehen ... Wenn das so einfach ist, warum ist es dann so schwer?

Jemand anderes würde mir dazu aber vielleicht sagen: Ja, ja, ihr mit eurem Gutmenschentum. Es könnte so einfach sein. Dieses Gefühl hatte ich in Washington, im Jefferson Memorial, beim Anblick der Inschrift „All men are created equal“. Der schönste politische Satz der Menschheitsgeschichte, ich stand davor und dachte: Es ist so leicht ... Ist es natürlich nicht. Aufgeben geht halt auch nicht. Das Frustrationspotenzial jedoch ist gigantisch.

Und danach kommt man zurück in ein Deutschland, in dem Wahlen wie in Mecklenburg-Vorpommern passieren. Wo es Bautzen und Dresden gibt ...

Es ist Realität, aber nicht nur da. Es ist auch Realität, dass in einer großen deutschen Tageszeitung ein Herausgeber schreibt, Frau Merkel behaupte, man könne sich in Zeiten der Globalisierung nicht mit Zäunen abschotten, und als nächsten Satz schreibt, darüber ließe sich streiten. Auch das ist Realität. „Überfremdung“ wird nicht mehr in Anführungszeichen gesetzt. Auch das ist Realität. Da bleibt es mir echt im Halse stecken.

Ist es schlicht „schön“, sich dagegen wieder in die Musik „zurückziehen“ zu können?

Ich ziehe mich überhaupt nicht in sie zurück. Musiker bin ich durch und durch und durch, aber ich sehe ja, was um mich herum passiert.

Viele Musiker sehen das nicht oder wollen es nicht sehen und fragen lieber: Wann kommt mein Flieger?

Wir haben den Luxus, so zu denken. Mich hat mal jemand gefragt, welchen „Mehrwert“ ich von meiner Haltung hätte. Du wirst es merken, wenn dieser Luxus mal weg ist, habe ich geantwortet. Wenn du mal nicht einfach rauskannst und sagen kannst, ach übrigens ... Das ist mein Leben, das ist mein Umfeld, davor kann ich ja nicht die Augen verschließen. Und wenn mir jemand sagt, er hat keine Zeit, er muss Klavier üben, möchte ich ihm echt die Ohren langziehen und sagen: Wach auf, Junge, wo lebst du?

Konzerte: 7.10., 20.00 / 16.10., 11.00: NDR Elbph. Orch.: Mozart Klavierkonzert KV 488, Werke von Strauss u. Szymanowski; Karten zu 14,10 bis 58,10 unter T. 44 19 21 92. 12.10., 19.30: Recital: Werke von Bach, Rzewski und Beethoven; Karten zu 17,50 bis 51,50 unter T. 30 98 98. Alles in der Laeiszhalle, Gr. Saal.