Hamburg. Foals, Milky Chance und eine Querflöte im ersten Abendlicht: Zum Dockville-Festival kommen an jedem der drei Tage jeweils 20.000 Fans.

„Entschuldige, wisst ihr, wo die Großschot, also die Hauptbühne ist?“, fragt ein sanfter Riese am Freitag beim Dockville-Festival am Reiherstieg in Wilhelmsburg. Wir zeigen freundlich mit dem Daumen hinter uns. Da ist sie, die Hauptbühne, keine 50 Meter entfernt ragt sie weithin sichtbar über das Areal. Aber kein Vorwurf, tatsächlich kann Dockville auch nach zehn Jahren verwirrend sein. Gerade hier auf den Treppenstufen, die zur Großschot-Bühne führen.

Die Sonne strahlt mit dem Glitzer, der die Gesichter ungezählter Besucherinnen ziert, um die Wette. Auf der Großschot läuft der Soundcheck von Matt Corby, der gleich seine australischen Hippie-Folk-Kleinode präsentieren wird, während seine Querflöte das erste Abendlicht spiegelt. Von der Vorschot, der zweitgrößten Bühne, dringt israelischer Dreampop von Lola Marsh herüber. Dazu vermengen sich Elektro- und Hip-Hop-Beats von den kleinen, zwischen den Hauptbühnen verstreuten DJ-Holzburgen mit drolligen Namen wie Easykisi, Tintin oder Nest, wo schon nachmittags unermüdlich ge­raved wird. Ein bunter Klangteppich.

Wir denken an Dockville 2011 zurück. An Regenchaos und Schlammsuhlen, an die Jahre, als Dockville zwar ein charmantes, aber auch immer leicht verpeiltes und bei aller Liebe wirr organisiertes Festival war. Es ist professionell geworden, das Gelände, das sich durch die Internationale Bauausstellung immer neu den Umständen anpassen musste, wirkt durchdacht, ist aufwendig dekoriert, viele Wege sind befestigt. Der Shuttlebus-Verkehr läuft reibungslos, und für Fahrradfahrer, die durch den Alten Elbtunnel anreisen, gibt es deutlich mehr Abstellmöglichkeiten als früher.

So kann man gemütlich an den Futterständen, die jedes Gelüst von Burger bis Vegan abdecken, zu Erobique vor die Maschinenraumbühne schlendern. Tausende tanzen, wo sie gerade stehen, heben Bierbecher oder selbst gebastelte Totems im Takt seines funky DJ-Sets, das der Hamburger immer wieder für Ansagen Marke „Der Mann cola-bierte an einer Überdosis Endorphine“ oder „Wenn ihr Perfektion wollt, dann geht zu Pur“ unterbricht. Schön schräg ist das, nur die Fahne mit großem Sparkassen-Logo, die ein Besucher eifrig schwenkt, passt nicht ganz in das alternative Gesamtbild. Bis es eine Nebenfrau auf den Punkt bringt: „Erobique ist halt ’ne Bank.“ Stimmt. Genau wie „Stolen Dance“, der Hit des Kasseler Indie-Folk-Duos Milky Chance, das wie schon 2014 von der Hauptbühne aus pure Lässigkeit vor malerischer Industriehafenkulisse verströmt.

Düsterromantik kann auch schnell aufkommen, wenn sich die Wolken zwischenzeitlich schwarz und unheilvoll am Himmel über Hamburg ballen. Es bleibt aber trocken, auch am Sonnabendabend. An dem tritt auf der kleinsten Bühne der 80er-Jahre-Retro-Romantiker Max Gruber auf, der sich als Musiker „Drangsal“ nennt. Drangsal ist schon vor einiger Zeit zu Recht zum neuen großen Ding ausgerufen worden. Der Südpfälzer und Wahlberliner Gruber spielt eine Mischung aus New Wave, Indiepop und Marilyn Manson, die unwiderstehlich ist. Wir müssen dringend mal wieder nach Herxheim/Pfalz.

Ein Glück ist, wie immer, die planlose Festival-Drift

Ja, das Dockville-Programm. Als studentischen Einflusszonen Entwachsener fragt man sich automatisch angesichts vieler unbekannterer oder auch, pardon, gewöhnungsbedürftiger Electronic-Folk-Bands wie den Crystal Fighters, ob man vielleicht den Faden verloren hat? Ein Glück ist, wie immer, die Festival-Drift. Halb zieht es einen, halb geht man freiwillig die längeren und kürzeren Wege. Es wird ja überall etwas geboten. Auch auf den Dockville-Pfaden selbst, auf denen junge Menschen das tun, was junge Menschen eben so tun: Polonaise laufen. Programmatische T-Shirts tragen („Trinken hilft“). Rauchen. Lustige Plakate („Ein Glied kann eine Brücke sein“) in die Höhe recken, mit schönen Grüßen an Joy Fleming.

Die englischbaskische
Band Crystal
Fighters spielte am Sonnabend
Die englischbaskische Band Crystal Fighters spielte am Sonnabend © dpa | Markus Scholz

Was den Liebesakt in Wort und Ton angeht, hat übrigens das Hamburger Duo Schnipo Schranke zuletzt versucht, Maßstäbe zu setzen. Sein vulgärer Witz kommt bei den jungen Leuten sehr gut an, die älteren könnten allerdings finden, dass er mit zwei, drei Songs zu Ende erzählt ist. Pop ist oft musikalischer Dilettantismus, und dafür darf man Schnipo Schranke dann doch wieder uneingeschränkt lieben.

Dockville ist ein Publikumsfestival. Was wie eine Tautologie klingt, ist eine popinfrastrukturelle Leistung. Man kann hier auf dem Marsch durch die Hafenbrache Hip-Hop, Rock, Techno, Elektro und Indiepop hören, auf Deutsch und auf Englisch.

Das Schöne ist: Pop kann einen hier immer noch überraschen. Der Engländer Loyle Carner ist auf der Butterland-Bühne ein zu dessen eigener Überraschung heftig umjubelter Rapper. Und seine eigentlich tollen Landsleute Foals schaffen es als Hauptattraktion der ganzen dreitägigen, je Tag etwa 20.000 Besucher anlockenden Veranstaltung tatsächlich, das von der Songauswahl vielleicht schlechtestmögliche Konzert abzuliefern. Proll-Metal à la „Providence“? Da gehen wir lieber zu Bilderbuch nach nebenan.

Was bleibt, ist das Einlass-Armbändchen am Handgelenk. Normalerweise werden die nach einem Festival abgeschnitten, aber es fällt schwer. Es glitzert so schön silbern. Als hätte man immer seine eigene Discokugel dabei.