Hamburg. Die unglaubliche Geschichte von Thomas Oepen, der im NDR Elbphilharmonie Orchester die Bratsche spielt.

Es ist nicht ganz einfach an diesem Vormittag mit dem Licht im Foyer des Rolf-Liebermann-Studios. Der Fotograf nimmt gedanklich Maß, bittet den schmalen Mann mit der Bratsche ein paar Stufen nach oben, dreht an Knöpfen und verstellt die Scheinwerfer. „Sie wissen schon im Voraus, wie das Foto sein wird“, sagt Thomas Oepen zu ihm. „Aber dafür habe ich ein paar Fehler machen müssen“, gibt der Fotograf lächelnd zurück. „Eben“, erwidert ­Oepen. „Wir sind die Summe unserer Erfahrungen.“

Den Satz hat Oepen nicht etwa in einem populärwissenschaftlichen ­Magazin aufgeschnappt. Der 57-Jährige ist im Hauptberuf zwar Bratscher im NDR Elbphilharmonie Orchester, zugleich aber ist er approbierter Arzt und hat ein ausgemacht neurowissenschaftliches Hobby, wie er es nennt: „Die Verarbeitung von Musik im Gehirn.“

Viele Menschen wissen von klein auf, dass sie Lokomotivführer werden wollen oder Astronaut, und manche sind so besessen, dass sie es dann auch wirklich werden. Andere wählen ihren Beruf überhaupt nicht, sondern nehmen, was sich gerade bietet. Und wieder andere, wie Oepen, werden aus Überzeugung erst das eine und vollziehen mitten im Leben eine Kehrtwendung.

Dass er Mediziner würde, ist Oepen durchaus an der Wiege gesungen worden. Er ist als fünfter und jüngster Sohn zweier Ärzte in Marburg aufgewachsen, auch alle seine Brüder haben den Beruf ergriffen. „Es war immer klar, dass ich auch Arzt würde“, sagt Oepen, er hat seine Beine auf einer der plüschroten Treppenstufen im Foyer zusammengefaltet und sieht beim Erzählen zwischen seinen Knien hindurch die Treppe ­hinunter, als könnte er dort ablesen, wie sein Berufsleben sich entwickelt hat. Ein Satz, der so fällt, beglaubigt seinen Werdegang geradezu exemplarisch: „Wenn man etwas unbewusst will, dann trifft man in bestimmten Situationen Entscheidungen in diese Richtung, ohne darüber nachzudenken.“

Ebenso selbstverständlich wie der Arztberuf gehörte bei den Oepens die Musik dazu. Oepen lernte Geige wie zwei seiner Brüder. Die familiäre Hausmusik hat ihn geprägt, aber auch Konzerterlebnisse in Marburg, darunter Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, die den Neunjährigen vollkommen überwältigte. Die Bratsche gab in seinem Leben zunächst nur ein Gastspiel. Im Vergleich zur Literatur für Geige (oder Klavier) ist das Repertoire für Bratsche ein ganzes Stück kleiner. Ein Sahnehäubchen ist die „Arpeggione“-Sonate von Schubert, geschrieben für ein kurioses Instrument, das zu Lebzeiten des Komponisten kurz in Mode war. Bratscher (und auch Cellisten) kapern das Werk nur zu gerne, ist es doch von einzigartigem melancholisch überhauchtem Schmelz. Oepen hörte es und wünschte sich prompt ein Instrument von seinen Eltern: „Nur um dieses Stück zu spielen!“ Denn eigentlich spielte er ja Geige. Und zwischen den beiden Instrumenten, nur Geiger und Bratscher können das voll ermessen, liegen mehr als nur ein paar Töne Unterschied in der Tonhöhe. Dazwischen liegen Welten.

Dass er mit 16 Jahren als externer Student an der Frankfurter Musikhochschule aufgenommen wurde, nahm er gerne wahr – „von meinem alten Lehrer hatte ich die Faxen dicke.“ An die ­Zukunft dachte er dabei kaum. Unter den Frankfurter Studenten erlebte ­Oepen dann ein Musikverständnis, das ihn zutiefst abschreckte. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mit denen nicht mithalten konnte. Und ich hatte mir auch ganz andere Vorstellungen vom Studium ­gemacht, ich hatte gedacht, da geht es um inhaltliche Fragen. Aber die hatten nur Virtuosität und Instrumentaltechnik im Kopf. Nach zwei Jahren war ich sicher, das wird nicht mein Beruf.“

Oepen hörte auf zu üben. Eineinhalb Jahre lang lag die Geige im Schrank. Aber als er zum Studium nach Hamburg ging, nahm er sie doch mit. Bei Friedrich Wührer, damals Konzertmeister des Philharmonischen Staats­orchesters, lernte er Kammermusik von der Pike auf. Schrieb die Bezeichnungen für alle Stimmen in die Noten und lernte die Werke dabei gleichsam von innen kennen. „Das finde ich immer noch eine fantastische Methode. Ich glaube ­daran, dass man ganz tief verinnerlicht, was man mit der Hand aufschreibt.“

Während seines Medizinstudiums lief die Kammermusik selbstverständlich mit, auch in seinen Lübecker Studienjahren. Aber dass er etwas anderes werden könnte als Arzt? Kein Gedanke.

Es schien nur ein Mosaiksteinchen in seinem musikalischen Leben, dass er in einem Konzert den berühmten Bratscher Bruno Giuranna hörte. Der spielte ein Bratschenkonzert von Henri Casadesus, das damals noch dem Bach-Sohn Johann Christian zugeschrieben wurde. „Das Stück fand ich so toll, dass ich das auch spielen wollte“, erinnert sich ­Oepen. Eine Bratsche hatte er ja, einen Lehrer suchte er sich. Er geriet an Klaus-Dieter Dassow, der war Bratscher beim NDR Sinfonieorchester und unterrichtete an der Lübecker Musikhochschule. Dassow fragte Oepen, ob er nicht Lust habe, bei dem Orchester für die Bratschenstelle vorzuspielen, die schon länger vakant war.

Im Inneren der Elbphilharmonie

Im Inneren der Elbphilharmonie

Soll den Klang in jeden Winkel des Großen Saals reflektieren: der Trichter mit der
Soll den Klang in jeden Winkel des Großen Saals reflektieren: der Trichter mit der "Weißen Haut" © Gilda Fernández-Wiencken
Blick in den Großen Saal der
Blick in den Großen Saal der "Elphi": In den oberen Bereichen des Saals sind bereits viele Kugelleuchten montiert. Im unteren Bereich des Fotos ist die Unterkonstruktion der Bühne sehen, die gerade verkleidet wird. Die Bühne besteht aus einzelnen Hubpodien, die mittels Spiralliften höhenverstellbar sind © Gilda Fernández-Wiencken
10.000 3D-gefräßte Gipsfaserplatten sollen einmal für die optimale Akustik in der Elbphilharmonie sorgen. Jede einzelne ist ein Unikat
10.000 3D-gefräßte Gipsfaserplatten sollen einmal für die optimale Akustik in der Elbphilharmonie sorgen. Jede einzelne ist ein Unikat © Gilda Fernández-Wiencken
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Die "Weiße Haut" windet sich durch den Großen Saal der Elbphilharmonie © Gilda Fernández-Wiencken
In dem Bereich, der hier ohne »Weiße Haut« zu sehen ist, wird später die Orgel eingebaut. Sie soll sich über mehrere Etagen erstecken
In dem Bereich, der hier ohne »Weiße Haut« zu sehen ist, wird später die Orgel eingebaut. Sie soll sich über mehrere Etagen erstecken © Gilda Fernández-Wiencken
Die Holzverkleidung im Kleinen Saal: Auf einer Fläche von insgesamt ca. 860 qm streut die 3-D-gefräste Oberfläche aus westeuropäischer Eiche (Blois, Frankreich)
Die Holzverkleidung im Kleinen Saal: Auf einer Fläche von insgesamt ca. 860 qm streut die 3-D-gefräste Oberfläche aus westeuropäischer Eiche (Blois, Frankreich) © Gilda Fernández-Wiencken
Jedes Holzpaneel ist 63 cm breit, 250 kg schwer und 6,30 m lang. Die kleinen Löcher in den Paneelen sind für die Frischluftzufuhr vorgesehen
Jedes Holzpaneel ist 63 cm breit, 250 kg schwer und 6,30 m lang. Die kleinen Löcher in den Paneelen sind für die Frischluftzufuhr vorgesehen © Gilda Fernández-Wiencken
Fassade mit Wellen: Blick von unten auf die Elbphilharmonie von außen
Fassade mit Wellen: Blick von unten auf die Elbphilharmonie von außen © Elbphilharmonie Hamburg
Von November 2016 an soll die Plaza der Elbphilharmonie öffentlich zugänglich sein
Von November 2016 an soll die Plaza der Elbphilharmonie öffentlich zugänglich sein © dpa | Axel Heimken
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Normal ist das nicht. Normal ist, dass man jahrelang geübt, sich durch Aufnahmeprüfung, Zwischenprüfung, Abschlussprüfung an einer Musikhochschule gezittert hat und sich dann auf alles bewirbt, was an halbwegs passenden Orchesterstellen ausgeschrieben ist. Längst nicht jeder Bewerber wird zum Probespiel eingeladen; der Ruf der Hochschule und des Lehrers spielen eine entscheidende Rolle – je renommierter das Orchester, desto unerbittlicher. Die Einladung zu bekommen ist aber noch das Geringste an diesem Initiationsritus. Probespiel-Odysseen sind schon für manchen hochqualifizierten Musiker zum Trauma geworden.

Und dann wird da einer, der all das nicht absolviert hat, einfach so eingeladen, ohne sich überhaupt beworben zu haben. „Dassow hat mich der Gruppe ja vorgeschlagen“, sagt Oepen.

Als ihn das Orchester wollte, war er überwältigt

Es ging schief. Oepen hatte nur zwei Wochen, um sich vorzubereiten. Er schaffte es bis in die dritte Runde, aber den letzten Satz aus dem Casadesus-Bratschenkonzert hatte er nicht noch einmal neu vorbereitet. „Der ging in die Grütze“, bemerkt Oepen.

Aber nicht nur Oepen wurde nicht genommen, es wurde überhaupt niemand genommen bei diesem Probespiel. Stattdessen wurde Oepen wieder eingeladen. Diesmal hatte er zwei Monate Vorlauf. Und übte „wie ein Tier“. Dabei hatte er gerade das dritte Staatsexamen bestanden und in Eutin seine erste Stelle angetreten. Was es bedeuten würde, wenn er das Vorspiel gewänne, fragte er sich nicht. „Ich habe nicht wirklich daran geglaubt“, sagt er. „Es war eher ein sportlicher Reiz, wo ich doch gar nicht Bratsche studiert hatte. Ich hatte ja meinen Job, ich machte den gern und wollte da gar nicht raus.“

Und dann, im zweiten Probespiel, kam alles anders. „Wenn ich manchmal beim Spielen merke, es gelingt, dann ­habe ich das Gefühl, das bin gar nicht ich, der da spielt, sondern ES spielt. So ging es mir in dem Moment“, beschreibt Oepen seine Empfindungen beim Probespiel. Heute, 30 Jahre später, nennt man so einen Bewusstseinszustand „Flow“. „Es hat unglaublich Spaß ­gemacht. In dem Moment habe ich erst gemerkt: Ich will es ja doch!“

Als ihn das Orchester wollte, war er überwältigt. „Überrollt“, sagt er. „Erst in dem Moment wurde mir klar, dass ich in Eutin würde kündigen müssen. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen.“ Er schlug dann heraus, dass er erst ein Dreivierteljahr später anfangen würde. In dieser Zeit arbeitete er weiter in ­Eutin, sammelte die Ausgleichstage für die Nachtdienste und spielte Projekte mit dem Orchester. Seit dem 1. April 1986 gehört Oepen dazu. „Eine der besten Entscheidungen meines Lebens.“

Nach ein paar Jahren spielte er dann zum ersten Mal Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ mit dem Orchester. Und brach in der Probe beinahe in Tränen aus. „Diese Intensität des ersten Hörens in meiner Kindheit, die war ­urplötzlich wieder da“, erzählt er. „Ich hatte mir so sehnlich gewünscht, das einmal zu spielen.“

Wir sind die Summe unserer Erfahrungen.

Konzert: Am 9.9., 19 Uhr, startet das NDR Elbphilharmonie Orchester mit einer „Opening Night“ in der Laeiszhalle in die neue Spielzeit.