Thomas Hengelbrockist Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Ein Mann mit Charisma, der seine Wirkung kennt und nutzt.
Augen sagen alles. Das ist bekannt, das gilt für jeden, aber für manche gilt es ein bisschen mehr. Für Thomas Hengelbrock etwa. Wenn er dirigiert, dann schmeicheln und schwärmen seine ozeanblauen Augen mit der Musik, werden riesig im Angesicht eines Dramas oder verdunkeln sich vor Trauer. Fast unmöglich, sich diesem Marlon-Brando-Blick zu entziehen. So etwas nennt man Bühnenpräsenz.
Man muss kein 1,90-Meter-Mann sein, blond und mit einem Hollywoodlächeln gesegnet, um als Dirigent Karriere zu machen. Aber es hilft. „Ich glaube, dass ich die Leute begeistern und mitnehmen kann. Da habe ich von der Natur viel geschenkt bekommen“, sagt der 58-Jährige nach einem Probentag mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Er sitzt im Dirigentenzimmer der Laeiszhalle und sieht leicht abgekämpft aus, aber die Luft scheint trotzdem zu vibrieren, wenn er spricht. Gibt es eigentlich auch Dirigentenzimmerpräsenz? „Ich bin immer mit viel Schwung rangegangen“, erzählt er weiter, „ich war sehr blauäugig. Ich bin heute noch blauäugig.“ Über die Doppelsinnigkeit dieses Satzes muss er selber grinsen.
Hengelbrock weiß genau, wie er wirkt, sein Lachen, seine Gestik, seine straffe Körperhaltung strahlen das aus. Er steuert diese Wirkung präzise. Seine Baritonstimme moduliert durch alle Ton- und Lebenslagen, ob im Gespräch, auf dem Podium oder beim Proben. Eine Passage in einer italienischen Oper erklärt er verschwörerisch flüsternd, er kann aber auch schneidend knapp ansagen: „Das haben wir geprobt. Das will ich haben.“ Virtuos balanciert er zwischen Verführung und Härte. Es ist eben etwas Wahres am Klischee vom Dirigenten als Dompteur: Was leicht aussieht, dahinter stecken eiserne Disziplin und Kontrolle.
Sein Privatleben hält er unter Verschluss. Zwei erwachsene Söhne hat Hengelbrock und einen kleinen mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Johanna Wokalek, viel mehr Details sind von ihm nicht zu haben. Eine Homestory mit ihm? Niemals.
Ein Glücksfall für jede Marketingabteilung
Die Projektionsfläche wird dadurch eher noch größer. Ein Mann wie Hengelbrock ist ein Glücksfall für jede Marketingabteilung. Natürlich ist der Chefdirigent das Gesicht zur Werbekampagne des NDR für die kommende Spielzeit, Hengelbrock ist ja Mr. Elbphilharmonie. Am 11. Januar 2017 wird er sein Orchester im Triumphzug in die Residenz an der Hafenkante führen, mehr als 70 Konzerte wird er allein in der verbleibenden Saison dort dirigieren.
Er blickte aber auch schon auf haushohen Plakaten vom Kaispeicher, als von dem künftigen Konzerthaus noch nicht viel mehr zu sehen war als Backsteinmauern und königsblaues Gerüstgestänge. Das war in jenen Jahren, in denen keiner mehr hinhörte, wenn die Verantwortlichen mal wieder versprachen, nun werde alles gut. Hengelbrocks Augen aber versprachen etwas anderes, nämlich ein faszinierendes Konzertprogramm. Dieses Versprechen hat er eingelöst, Saison um Saison, ohne sich von den Eskapaden der Jahrhundertbaustelle an der Hafenkante die Laune verderben zu lassen. „Natürlich bin ich auch ungeduldig und warte darauf, dass es vorangeht“, sagte er anlässlich seines Antritts 2011. „Aber mir ist jedes Konzert wichtig, auch wenn es ein kleines Kirchenkonzert mit einer Bachkantate ist. Wir spielen für Menschen. Publikum ist Publikum.“
Daraus spricht ein Selbstverständnis, das mit Kalkül und Marketing nichts zu tun hat. Ob Hengelbrock in der Laeiszhalle konzertiert oder in einer Aula, immer ist er mit vollem Einsatz dabei. Das ist heute noch genauso wie zu seinen Anfängen in den 80er-Jahren, als er, von Haus aus Geiger, zum Dirigentenstab griff. Mag sein, dass die Schlagtechnik des Quereinsteigers Grenzen hat; mag sein, dass das Gerücht stimmt, Hengelbrock sei bei seinem Debüt auf dem Bayreuther Grünen Hügel mit Wagners „Tannhäuser“ mit der vertrackten Akustik des Hauses nicht zurechtgekommen; mag sein auch, dass die Verbindung mit den NDR-Musikern, anfangs in den euphorischsten Metaphern von „Verlobungszeit“ bis „Honeymoon“ besungen, in fünf Jahren ihre Höhen und Tiefen hatte.
Aber dass Hengelbrock das Ensemble aus der Agonie herausgeführt hat, in der es nach dem geräuschvollen Abgang von Hengelbrocks Vorgänger Christoph von Dohnányi steckte, das hört man. Dieses Wesen, das sich Orchester nennt, hat sich förmlich gehäutet. So flexibel und farbenreich ist der Klang inzwischen, so sinnbewusst und aufmerksam sind die Musiker dabei, so hoch ist das spieltechnische Niveau, dass frühere Zeiten in der Erinnerung anmuten wie eine Fortsetzungsübung in preußischen Sekundärtugenden.
Was ist Hengelbrocks Geheimnis?
Aber was ist denn nun Hengelbrocks Geheimnis? Mal abgesehen von dem wolkigen Hinweis auf sein Charisma oder seine blauen Augen?
Was die Musik betrifft, ist da zum einen eine ungewöhnliche Arbeitshaltung. Hochbegabt, ehrgeizig und fleißig sind viele Dirigenten. Aber zusätzlich zum Partiturstudium in die geistige Welt eines Werks einzutauchen, Notenhandschriften und Erstdrucke zu vergleichen, Briefe und zeitgenössische Berichte zu lesen, das tun nicht ganz so viele. Und noch weniger destillieren aus ihren Erkenntnissen einen so persönlich erzählenden Ton, dass dem Hörer mitunter die Tränen der Bestürzung kommen, als verstünde er einen geliebten Menschen nach langer Zeit zum ersten Mal. Bei Bach und Mozart kennen wir das mittlerweile, dass die plötzlich vollkommen anders klingen. Bei Bruckner, Wagner oder Mahler kommt es schon eher einem Tabubruch gleich, wenn ein Dirigent ungewohnte Tempi und radikale Kontraste riskiert und das Klangvolumen zugunsten einer berückenden Farbigkeit und Durchhörbarkeit zurücktritt.
Ein Werk von den Bedingungen seiner Entstehung her begreifen zu wollen, klingt eigentlich logisch. Dennoch wurde dieser Ansatz lange als abgedrehte Idee ein paar versprengter Müsli-Musiker belächelt. Dass er heute auch bei etablierten Orchestern zum guten Ton gehört, dazu hat Hengelbrock maßgeblich beigetragen. In Wilhelmshaven aufgewachsen, hat er in Freiburg bei Rainer Kussmaul Violine studiert, einem Lehrer, der dafür bekannt ist, junge Geiger in ihrem künstlerischen Eigenwillen zu bestärken. Nicht von ungefähr waren es Kussmaul-Schüler, mit denen Hengelbrock 1987 das Freiburger Barockorchester gründete. Nach ein paar Jahren trennten er und die Freiburger sich, Stichwort Eigenwillen, und Anfang der 90er-Jahre gründete Hengelbrock den Balthasar-Neumann-Chor und das Balthasar-Neumann-Ensemble. Mit den beiden Gruppen hebt er barocke Schätze, führt aber auch Verdi-Opern auf. 2013 kratzten sie gar den über 130 Jahre gewachsenen ideologischen Firnis von Wagners „Parsifal“. Und lange bevor er in Hamburg Chef wurde, hat Hengelbrock von den Wiener Philharmonikern bis zum Madrider Teatro Real an den ersten Adressen dirigiert.
„Gemeinsames Musikmachen eine fragile und kostbare Angelegenheit“
Eine Exegese Buchstabe für Buchstabe hat er aber nie verfochten. Werktreue für ihn nichts Starres: „Sinn und Gehalt eines Stücks muss ich so erschließen, dass es für uns heute, im Moment der Aufführung, stimmig ist.“
Diese Maxime gilt ihm für Werke jedweder Epoche, auch der unsrigen. Hengelbrock hat mit so prominenten Komponisten wie Witold Lutoslawski, Jan Müller-Wieland und Erkki-Sven Tüür gearbeitet. Die Aufführung von Luigi Dallapiccolas Oper „Il prigionero“ aus dem Jahre 1948 unter seiner Leitung beim diesjährigen Internationalen Musikfest Hamburg war ein, wenn nicht schlechthin der Höhepunkt des ganzen Festivals.
Und was die Person betrifft? Ein bisschen was von den aufmüpfigen Freiburger Anfängen hat Hengelbrock sich bewahrt. Vor einigen Jahren wollte er Rossinis „Guillaume Tell“ am Opernhaus Zürich mit einer Festbesetzung im Orchester einstudieren. Der damalige Intendant Alexander Pereira bestand aber darauf, dass die Besetzungen wie üblich von Probe zu Probe wechselten. Also verlangte Hengelbrock mehr Proben – und als ihm Pereira nicht so viele zusichern wollte, wie er ausreichend fand, gab Hengelbrock sein Engagement eben zurück.
Musikalische Kompromisse sind seine Sache nicht. „Wenn ich zu einem Orchester komme und merke, es gibt interne Schwierigkeiten, und die Stimmung ist katastrophal, kann ich nicht dirigieren“, sagt Hengelbrock. „Dazu ist gemeinsames Musikmachen eine zu fragile und kostbare Angelegenheit.“
Es ist ein Paradox: Musik entsteht zwischen den Polen Hingabe und Selbstbeobachtung. Ein Musiker darf die Kontrolle selbst in ekstatischen Momenten nie aufgeben. Aber Kontrolle schließt Ekstase eben auch nicht aus. Jedenfalls nicht bei dem Ausdrucksjunkie Hengelbrock. Seine Konzerte mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester sind regelmäßig knallvoll. Seit fünf Jahren schon. Die Beziehung mit dem Publikum nutzt sich einfach nicht ab. Und das Publikum lässt sich nicht täuschen. Es schert sich nicht um Sachzwänge, Konventionen oder Marketingaspekte, sondern reagiert direkt auf den Menschen, der vor ihm steht.
Vielleicht liegt ja der tiefere Grund für Hengelbrocks Wirkung schlicht in dem, was er ausstrahlt: Was zählt, ist die Musik. Nur sie.
Elbphilharmonie: Virtueller Rundgang durch den Großen Saal