Hamburg. Krzysztof Urbanski, das NDR Elbphilharmonie Orchester und Solistin Sol Gabetta begeistern beim Konzert im Baakenhafen.

„Gegenwind formt den Charakter“, hatte NDR-Intendant Lutz Marmor kurz vor Beginn des ersten HafenCity Open Airs schmunzelnd gesagt. Doch was den 2000 Zuschauern aus Windrichtung Nordwest ins Gesicht bläst, ist mit steifer Brise wohlwollend umschrieben. Als das NDR Elbphilharmonie Orchester mit seinem Dirigenten Krzysztof Urbanski am Freitag um 21 Uhr auf die Bühne im Baakenhafen kommt, hört immerhin der Regen auf. Platzanweiserinnen wischen, so gut es geht, die Schalensitze trocken, die Zuhörer quälen sich in Plastikcapes mit dem Aufdruck „Das Beste am Norden“, um von den nächsten drohenden Schauern nicht vollständig durchnässt zu werden.

Trotz des widrigen Wetters ist der Blick die Elbe hinunter außergewöhnlich. Hinter der durchsichtigen Plexiglas-Bühne ist die Elbphilharmonie zu sehen, im Elbstrom kämpft sich ein Zwei-Mast-Schoner unter Segeln den Strom flussabwärts, auf dem linken Elbufer beleuchten Scheinwerfer Blohm & Voss, rote Lichter glimmen an Hafenkränen. Industrieromantik pur.

Das Konzert beginnt mit der Ouvertüre aus der Oper „Ruslan und Ludmilla“ von Michail Glinka. Mit Verve spielt das Orchester das kurze und kraftvolle Stück des „Vaters der russischen Musik“, wie Glinka genannt wurde. Die Tonqualität aus den Lautsprechern ist erstklassig, für die Musiker ist ein Konzert unter diesen Voraussetzungen jedoch eine große Herausforderung. An einem der vorderen Pulte kämpfen zwei Geiger einen fast aussichtslosen Kampf mit den Notenblättern, die der Wind davonsegeln lässt.

Nach diesem furiosen Auftakt kommt Sol Gabetta in einem weiten roten Kleid auf die Bühne. Auf dem Programm steht Dmitrij Schostakowitschs Cello-Konzert Nr. 1, das er 1959 für den russischen Virtuosen Mstislaw Rostropowitsch geschrieben hat. Die Cellistin aus Argentinien meistert das anspruchsvolle Werk mit Bravour. Schon nach dem ersten Satz brandet Beifall auf.

Applaus ist bei Klassik-Konzerten zwischen den Sätzen verpönt, aber zu diesem Open-Air-Spektakel sind wohl viele Zuschauer gekommen, die mit diesen Gepflogenheiten nicht vertraut sind, sich aber von der Klassik-Euphorie in Hamburg haben anstecken lassen.

Im zweiten Satz reißt der Himmel etwas auf, Gabetta spielt den Satz mit viel Vibrato und lässt die Töne in elegischem Moderato lange klingen. Gestört wird diese einfühlsame Interpretation von permanentem Knistern der Regencapes. Auch der Wind bestimmt die Dynamik mit. Einige Passagen werden verweht, andere kommen mit überraschender Lautstärke auf der Tribüne an.

In den Genuss der vielen spielerischen Nuancen dieser Virtuosin auf dem Cello kommt das Publikum am nächsten Tag beim zweiten Konzert des Freiluftspektakels. Am Sonnabend ist es über dem Hafen windstill, am frühen Abend zieht nur ein Schauer über das Areal. Am Buenos-Aires-Kai sitzen Hunderte von Zuschauern auf Decken oder stehen auf der Baakenhafen-Brücke, um das Konzert auf zwei Leinwänden zu verfolgen – oft mit besserer Sicht als die Zuschauer mit Kaufkarten, denn die Kameras liefern gestochen scharfe Detailaufnahmen der Solistin, des Dirigenten und der anderen Musiker. Am Abend zuvor sitzen nur wenige Klassik-Fans dicht an­ein­andergekuschelt auf den Steintreppen. Einen Tag später geht die Strategie des NDR jedoch auf, der Stadt ein erstklassiges Klassik-Event im Hafen zu präsentieren und Werbung in eigener Sache zu machen. „Voller Klang voraus“, lautet der Slogan für das HafenCity Open Air.

Dieses Motto kann auch für das Ensemble Resonanz gelten, das ein paar Kilometer südlich auf dem Klütjenfelder Hauptdeich mit Gästen wie der Saz-Spielerin Derya Yildirim sein Open Air veranstaltet. Immerhin 400 Zuhörer trotzen dort drei Stunden lang Wind und Regen und erleben ein spannendes Programm mit Werken von Györgi Ligeti, Béla Bartók und Yannis Xenakis. Das Ensemble Resonanz, ebenfalls zukünftiges Residenzorchester in der Elbphilharmonie, hatte allerdings nur den Freitag als Spieltag, einen Tag später hätten sich sicher noch mehr Besucher zu dem eintrittsfreien Konzert nach Wilhelmsburg aufgemacht.

Auf der NDR-Bühne brilliert zur selben Zeit Sol Gabetta mit der schwierigen Solokadenz, die sie glanzvoll meistert, im dritten Satz des Schostakowitsch-Werkes sprüht sie vor Temperament, bearbeitet ihr Instrument mit so viel Vehemenz, dass man Angst haben muss, eine Saite würde reißen. Das Publikum trampelt vor Begeisterung, bekommt die geforderte Zugabe.

Zweiter Höhepunkt des Abends wird Antonin Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, eines der meistgespielten und berühmtesten Orchesterwerke der Welt. Aus eben diesem Hamburger Hafen hat sich der tschechische Komponist 1892 per Schiff in die USA begeben, um in New York Direktor des National Conservatory of Music zu werden und dort seine 9. Sinfonie zu komponieren.

Nach einer langsamen Einleitung explodiert der erste Satz mit dumpfen Paukenschlägen und dem Unisono der Streicher. Urbanski dirigiert das NDR Elbphilharmonie Orchester mit exakten, nie übertriebenen Schlägen. Dabei verlässt er sich nicht nur auf seinen Taktstock, es scheint, als könne er seine Musiker mit bloßem Augenkontakt zu Höchstleistungen anstacheln.

Im Largo des zweiten Satzes lässt der Wind deutlich nach, Urbanskis Dirigat wird explosiver. Mit hochgerissenen Armen führt er das Orchester in den furiosen vierten Satz und ein bombastisches Finale. Fast mit dem Schlusspunkt setzt der Regen wieder ein. Doch das begeisterte Publikum hat ein mitreißendes Konzert erlebt – und etwas für die Charakterbildung getan.