Generalmusikdirektor Kent Nagano und Ballettchef John Neumeier treten erstmals gemeinsam an: zum Auftakt der 42. Hamburger Ballett-Tage.

Zum Start der Ballett-Tage kommt es zu einer Mehrfach-Premiere: Ballett-Chef John Neumeier und Generalmusikdirektor Kent Nagano machen gemeinsame Sache. Olivier Messiaens monumentale Turangalila-Sinfonie als Grundlage eines Balletts, erstmals seit einem Interpretations-Ansatz 1968 in Paris, der in einem Skandal endete und in Messiaens Weigerung, je wieder eine Choreografie zu erlauben. Daran scheiterte bereits in der Ära von Ingo Metzmacher die Idee, es in Hamburg zu präsentieren. Dass Nagano in den 1980ern mit Messiaen gearbeitet hatte, sorgte erst jetzt für ein „Oui“. Das Stück ist so groß besetzt, dass das Orchester nicht in den Graben passt, es wurde dafür extra eine Bühne auf der Bühne gebaut.

Wie bringt man so ein Stück auf die Bühne, das eigentlich nicht zur Vertanzung gedacht war?

John Neumeier: Ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht als Tanz gedacht war. Die Bedeutung des Worts „Turangalila“ trägt ja auch Rhythmen und Bewegung in sich. Außerdem hat Messiaen selber in den 60er-Jahren an einem Libretto für ein Ballett gearbeitet, das dann nicht zustande kam. Die Musik hat schon etwas geheimnisvoll Rhythmisches, das eigentlich nach Bewegung schreit ...

Kent Nagano: ... Meine Perspektive beruht auf meiner Zeit mit Messiaen und auf unseren Gesprächen. Wir haben damals auch über den großen Skandal und den Rechtsstreit gesprochen, den er verloren hatte. Er war nicht grundsätzlich gegen die Idee eines Balletts dazu, denn es gab Diskussionen mit Opernhäusern und Choreografen, Hamburg hatte er 1960 erlaubt, Teile zu realisieren. Aber nach dem Prozess hatte Messiaen gesagt: „Die Menschen verstehen meine Musik nicht, ich will so etwas nicht noch einmal erleben.“ Als wir uns Anfang der 1980er begegneten, war er zwar nicht mehr wütend, aber seine Haltung war ganz klar: Bitte nicht. Ich glaube, er war vor allem über die Vorschläge der Choreografen enttäuscht, die er bekommen hatte.

Wie haben Sie es geschafft, dennoch eine Erlaubnis zu erhalten?

Nagano: Das ergab sich durch unsere erste Begegnung. Ich hatte hier in Hamburg noch nicht angefangen, wollte aber John Neumeier kennenlernen. Er erzählte mir viel von der eigenen Identität des Balletts. Ich habe ihn gefragt, ob es etwas gibt, was er schon längst tun wollte und wobei ich behilflich sein könnte, um das Haus mehr zusammenzubringen. Da erwähnte er dieses Stück. Durch meine Arbeit mit Messiaen bin ich viel in seinen Kreisen unterwegs gewesen. Nach seinem Tod habe ich viel Messiaen dirigiert und immer Kontakt mit dem Sohn gehabt. Dem habe ich einen Brief geschrieben, und ebenso der Edition Durand: dass ich Messiaens Gründe verstehen würde, aber die Produktion hier würde ich persönlich und in seinem Sinne leiten. Und dass ich der Meinung bin, dass John Neumeiers Arbeit zur Ästhetik von Messiaen passt. Zurück kam die Antwort: Wenn Sie dabei sind, geben wir unser Okay.

Gab es dennoch Vorgaben fürs Ballett? Mussten Sie Ideen absegnen lassen?

Neumeier: Nein, ich bin nur vom Verlag gebeten worden, ein Libretto vorzulegen. Darauf habe ich zurückgeschrieben, dass das unmöglich ist. Bei einem symphonischen Ballett ist die Musik für mich das Libretto. Erst durch das Abenteuer, diese Musik zu choreografieren, kann ich sie überhaupt verstehen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, eine eigene „Story“ auf eine solche Musik zu legen. Denn es geht darum, die Ideen aus der Musik herauszuhören und meiner subjektiven Wahrnehmung eine choreografische Form zu geben. Inzwischen gibt es vielleicht einen roten Faden, der sich durch das Stück zieht, doch das ist nichts, was man mit Worten formulieren könnte.

Wer bestimmt jetzt auf der Bühne buchstäblich, wo es langgeht?

Nagano:Der große Vorteil ist, dass John für seine Choreografie meine Aufnahme des Stücks mit den Berliner Philharmonikern verwendet hat. Die fundamentalen Zeiträume und die Ästhetik der Bewegungen basierten darauf. Das hilft schon mal sehr. Und John hat eben kein prosaisches programmatisches Libretto entworfen. Es ist eher abstrakt, was der Musik das Atmen erlaubt. Bei den Proben besprechen wir uns regelmäßig: Ist es hier zu langsam? Ist es dort zu schnell? Heute war die erste Probe, und das ging ganz gut. Wir haben uns nicht angeschrien(lacht).

Neumeier: Als wir uns für diese Arbeit entschieden haben, war völlig klar, dass das Orchester nicht im Graben sein kann. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil es zu groß besetzt ist. Es ist auch schön, die Spannung im Orchester zu sehen. Die Musik nicht nur zu hören, sondern auch die Musiker zu sehen, während ich auch das Körperliche der Tänzer als Bild im Vordergrund sehe. Deswegen war es auch wichtig, einen Bühnenbildner zu haben, Heinrich Tröger, der eigentlich Architekt ist und eine Art Konzertmuschel auf die Bühne gebaut hat. Er hat mit Kreisen gearbeitet. Das Orchester sitzt in einem, es gibt einen über ihm, die Tänzer vor ihm bewegen sich in einem weiteren Kreis. Das ergibt eine tolle Harmonie von Raum und Klang. Das war das Wesentliche, bevor ich überhaupt an einen ersten Schritt gedacht habe.

Bei Ihrem „Liliom“ mit der NDR Bigband waren ebenfalls einige Dutzend Musiker auf der Bühne, aber nicht derart präsent wie die etwa 115 jetzt. Ist das nicht schon fast eine Irritation, für die Tänzer wie fürs Publikum – dass so viel passiert, was eindeutig nicht Tanz ist?

Neumeier: Ich glaube nicht. Es gibt einen Schleier, der manchmal da ist und mal nicht. Es sind höchstens 40 Tänzer auf der Bühne, aber sie sind uns näher. Wie der Vordergrund in einem Gemälde. Selbst wenn der Schleier unten ist, sehe ich, was im Orchester passiert. Es ist von mir als choreografisches Bild mitgedacht, dass ich ein Orchester als Hintergrund habe.

Bei dieser Produktion arbeiten der Ballett- und der Orchesterchef des Hauses erstmals miteinander. Zwei große Egos, die auf­einandertreffen und sich abstimmen müssen. Rumpelt es da?

Neumeier: Für mich ist das überhaupt nicht so. Die Idee entstand bei einem tollen Abendessen, und wir waren uns sofort einig. Vor der Musik habe ich sehr großen Respekt. Bei der Probe vorhin achtet Kent auf seine Aufgaben, ich achte auf meine, wir sprechen darüber miteinander. Wir wollen das Gleiche: dass man eine Einheit bildet.

Ein Test oder der Beginn einer wunderbaren programmatischen Freundschaft? Das machen Sie jetzt öfter?

Neumeier: Ich kann nur sagen: hoffentlich, weil wir sehr ähnlich denken in der Zielstrebigkeit, etwas zu erreichen.

Nagano:Unsere Arbeit basiert auf einem großen Respekt vor der Partitur und ihrem Inhalt. Das ist nicht immer so mit einem Choreografen. Mit John aber doch. Er versteht Musik, er kann sie lesen, er hat schon so viel wirklich anspruchsvolle Musik umgesetzt. Diese große Sensibilität ist wie eine sehr große offene Tür. Egos sind bei uns nicht das Thema.

In Ihrer Dirigenten-Vita sind noch nicht allzu viele Ballett-Produktionen.

Nagano: Das stimmt. Es gab einmal, als ich anfing, eine Zeit, in der ich lächerlich arm war und alle Arbeiten angenommen hatte. Auch die als Klavierbegleiter von Ballett-Klassen. Den „Nussknacker“ kann ich rückwärts. Das war für mich eine fürchterliche Zeit, denn die Tanzwelt war wie beim Militär, die Tanzmeisterin war unfreundlich und unmusikalisch. Aber dennoch habe ich damals so viel gelernt – ein absolut stabiles Taktgefühl ist mir ins Gehirn gebrannt worden. Einige Choreografien haben wir in meiner Zeit in Lyon gemacht. Und jetzt also etwas mit John.

Wie kommt Ihre Compagnie mit der ungewohnten Perspektive auf das Orchester und dieser Nähe klar? Normalerweise spielt es anonym und unsichtbar aus dem Orchestergraben, und es könnte fast egal sein, wer da sitzt und spielt.

Neumeier: So denken sie schon deswegen nicht, weil sie nicht so erzogen sind. Nach jedem Teil von „Turangalila“ gab es heute bei der Probe mit Orchester Applaus von den Tänzern, die mit großem Interesse zugehört haben. Das ist für sie eine riesige Inspiration, so nah bei den Musikern zu sein. Und wenn die Musiker nicht spielen, brauchen sie nur nach vorn zu schauen und begreifen so, wie man Musik mit Bewegung verbinden kann.

Wie groß ist für Sie die Gefahr, sich mit einem der klassischen Neumeier Moves selbst zu zitieren?

Neumeier: Die Frage verstehe ich nicht, denn ich gehe ja nie in einen Ballettsaal und sage: Jetzt machen wir mal einen „Neumeier Move“. Für mich ist jedes Stück eine große Herausforderung. Wie weit jemand das erkennt, ist ihm überlassen. Wenn man Mozarts Musik nicht kennt, klingt womöglich jede Sinfonie gleich. Messiaens Musik ist sicher anders als eine Mahler-Sinfonie zu choreografieren, das ist klar.

In einem Nachruf auf Messiaen stand, „Turangalila“ sei eine „Kathedrale der philharmonischen Wollust“. Passt das?

Nagano: Das ist ein schönes Bild. Denn in dieser Musik ist es sehr einfach, die Objektivität zu verlieren, weil sie so grandios ist und so intensiv, so sehr voller Gefühl.

Neumeier: Es gibt Passagen, in denen wir zählen. Aber auch welche, wo es kontraproduktiv wäre, das zu tun (beide lachen).

Hat Ihre Compagnie jetzt ein Verständnis für die ekstatische, religiöse Klang- und Gedankenwelt Messiaens? Haben Sie Werkeinführungen abgehalten?

Neumeier: Nein. Auch ich wollte zuerst nicht rational darangehen. Das ist wie beim Lernen einer Fremdsprache, wenn man nach dem Umgang mit den Grundregeln Angst vorm Sprechen hat, weil man Angst hat, etwas falsch zu machen. Der Effekt dieser Musik ist überwältigend. Den wollte ich erhalten, auch für mich selber, sodass ich im Grunde genommen unschuldig an die Musik gehe. Und nicht versuche, die Partitur sichtbar zu machen, sondern mich instinktiv auf diese Musik zubewegen. Das hat sich auf die Tänzer übertragen. Vorhin habe ich Kent gesagt: Es gibt Passagen, die für uns so schwer sind, die wir nicht zählen können, und trotzdem können vier junge Frauen genau gleich zusammen dazu tanzen. Womit wir wieder bei Ihrer ersten Frage sind: Im Geist dieser Musik ist etwas essenziell Tänzerisches. Nach unserem ersten Durchlauf gestern habe ich zum ersten Mal mit den Tänzern über diese Musik gesprochen. Es ist wichtig, dass sie etwas darüber wissen. Aber es ist nicht wichtig, dass sie vorher etwas wissen, um dann vorsichtig in diese Musik hineinzugehen.

Termine: 3.7., 18.00 Uhr, 5./8.7., 19.30 Uhr. Staatsoper. Karten unter T. 35 68 68