Hamburg. Bei seinem Musikfest in der Hamburger Hauptkirche bringt der Generalmusikdirektor Werke von Gabrieli, Boulez und Brahms.

Es hatte schon fast etwas Zirzensisches. Im Mittelgang des Michels, zwischen den Sitzreihen des Kirchengestühls, stand Generalmusikdirektor Kent Nagano wie ein Kirchentonart-Dompteur und gab seine Einsätze an die acht Blechbläser, die in der Höhe des Kirchenraums auf den gegenüberliegenden Emporen verteilt waren. Gabrieli, „Sacrae Symphoniae“, zwei seiner doppelchörigen Instrumentalwerke aus der Spätrenaissance. Venezianische Mehrchörigkeit ist das musikhistorische Stichwort für diese erhabene Zeremonie aus Noten, Intervallreibungen und viel Hall.

Nagano war in diesen ersten Minuten seines aufwendigen Musikfest-Konzerts am Sonnabend mehr Akkord-Fluglotse als regulärer Dirigent; er musste mit seinen übergroßen Gesten zusammenbringen, was räumlich weit getrennt war. Nur so konnte er die Aura dieser Antiquität rekonstruieren, deren Spezialeffekt man als Zeitgenosse von Surround-Kino und phonstark wummernden Wohnzimmer-Lautsprecherbatterien überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann: Musik als Phänomen im Raum und nicht als klar erkennbare Frontalbespielung. Musik pur, als architektonischer Ausnahmezustand, von dem Herz und Hirn gleichermaßen beschallt und bewegt werden. Wo, wenn nicht im Kirchenraum, der nach Ewigkeit riecht und nach Demut vor den letzten Dingen, hätte so etwas stärker passieren können.

Nach dem Boulez-Abenteuer erschien Brahms’ Klassiker nur wie zweite Wahl

Deswegen war die Kontrastwirkung zum Folgenden auch so drastisch, und wohl auch so gewollt. Die letzten, 420 Jahre alten Ideen Gabrielis waren kaum verklungen, als Nagano zu einem Dirigentenpult vor dem Altarraum wechselte und die nächste Lektion des Hinhörens begann. Mit Pierre Boulez’ „Répons“, einem Stück, dessen theoretische Wichtigkeit im Laufe seiner 35 Lebensjahre immer größer wurde, weil es wegen seiner einschüchternden technischen Anforderungen so gut wie nie zu hören ist. Ein Grund mehr für den Hamburger Generalmusikdirektor, noch ziemlich frisch im Amt, eine Referenzgröße aus dem Werkkatalog des Hamburger Bachpreisträgers als Demonstration des Ungewöhnlichen und lehrreich Anstrengenden aufs Musikfest-Programm gewuchtet zu haben.

Eine Harfe auf
einem Podest – nur
ein Teil der Instrumentenverteilung
bei Pierre Boulez’
Raumklang-Komposition
„Répons“,
die Kent Nagano im
Michel dirigierte
Eine Harfe auf einem Podest – nur ein Teil der Instrumentenverteilung bei Pierre Boulez’ Raumklang-Komposition „Répons“, die Kent Nagano im Michel dirigierte © Stefan Malzkorn

Ohne die Live-Elektronik-Experten vom Freiburger Experimentalstudio des SWR wäre diese Aufgabe allerdings nicht zu bewältigen gewesen. Die Avantgarde-Task-Force ist seit Jahrzehnten international unterwegs, um solche Experimente zum Publikum zu bringen, gegen alle Widerstände, die ein Aufführungsort mit sich bringen kann, der immer erst passend und gefügig gemacht werden muss. Und obwohl man den Gedanken nicht verdrängen konnte, dass dieses Stück mit all seinen Komplikationen eine Vertagung bis nach der Eröffnung der Elbphilharmonie durchaus vertragen hätte – die Raum-Klang-Wirkung des kleinen Ensembles und der sechs Instrumentalsolisten in der Prunk-Architektur von St. Michaelis war immens. Erst recht, als auch noch die Echtzeit-Verfremdung und -Verwirbelung der Töne durch die Ton-Techniker einsetzte. Die Formel „Klang plus Raum gleich Wirkung“ gingt bestens auf.

Geradezu überkonventionell wirkte dagegen und danach der zweite Teil des Abends: Brahms’ „Deutsches Requiem“, ganz konventionell von der Empore abgeliefert, mit Christina Gansch und Michael Volle als schön anzuhörende Solisten. Immer wieder schön, dieser Brahms, immer wieder gern gespielt, gern genommen. Doch nach einem Hörabenteuer mit Boulez erschien selbst ein bedeutender Brahms-Klassiker nur wie gute zweite Wahl. Wie ein Programmzugeständnis an lokale Vorlieben, das Hörer mit einem Publikumsliebling dorthin locken sollte, wo sie freiwillig vielleicht lieber nicht gewesen wären. Bei der nächsten Musikfest-Runde sind solche Erziehungs-Tricks hoffentlich schon unnötig. Selbst eine noch so gute pädagogische Absicht heiligt nicht alle Erziehungs-Mittel.