Hamburg . Der Hamburger Sänger hat mit „Sie haben den Falschen“ in seiner Wahlheimat Andalusien ein famoses neues Album produziert.
Wenn Michy Reincke, 57, gefragt wird, wo denn nun das Studio seines Labels Rintintin zu finden sei, macht er gern einen Scherz: „Also, du fährst drei Straßen weiter, dann einmal rechts, einmal links und dann gehst du durch das große Tor. Kannst du nicht verfehlen.“
In der Realität führt der Weg zu Rintintin, musikalische Heimat von Künstlern wie Anna Depenbusch und Fjarill, über eine kleine Seitenstraße in Barmbek-Süd. Dritte Etage, Eingang links. Oben steht der Hausherr in der Zarge und feixt: „Die Treppe ist ganz schön steil, oder?“ In der Küche der Dreizimmerwohnung dampft grüner Tee. Eine Tür weiter hängen zehn Gitarren an den Wänden, neben dem Keyboard steht eine monströse Maschine mit mächtigen Tonspulen und Reglern; ein Aufnahmegerät, das im digitalen Musikzeitalter so deplatziert wirkt wie ein Röhrenradio bei Saturn.
Und wo ist nun das Studio von Rintintin? „Genau hier“, sagt Reincke. Zwischen selbstgebastelten mächtigen Styroporquadern hat er seine Alben eingespielt, auch Stefan Gwildis, sein einstiger Schulfreund, jazzte mit den Strombolis in der Altbauwohnung mit den doppelverglasten Fenstern. Tagsüber, Reincke mochte das gute Verhältnis zu den Nachbarn nicht riskieren.
Die Kunststoff-Würfel hat Reincke inzwischen abgehängt. Denn seine neue CD „Sie haben den Falschen“ entstand 2700 Kilometer südwestlich von Hamburg. In Ronda, einer Kleinstadt in der Nähe von Malaga. Hier hat er mit seiner Frau Yvonne für zunächst zwei Jahre einen Bauernhof gemietet. Mit Pferdestall, einem Hektar Land – und dennoch günstiger als eine Dreizimmer-Mietwohnung in Winterhude.
Andalusien hatte es Reincke schon immer angetan. Die Landschaft, das Meer – und vor allem der Menschenschlag: „Hier reden die Leute noch miteinander und wischen nicht ständig auf ihren Smartphones rum.“
Die spanische Sonne konnte Reincke in den vergangenen Monaten indes nur beim morgendlichen Café auf der Terrasse genießen. Ansonsten verkroch er sich im Studio, rauchte Selbstgedrehte im Akkord („Meine Frau weiß ja, dass ich damit nach dem Album wieder aufhöre“), immer auf der Suche nach dem perfekten Sound.
Reincke fährt das Notebook hoch, startet die Audiodatei. Satte Keyboard-Klänge perlen aus den Lautsprechern, „Ozean“, der erste Titel. „Wir alle reiten auf dem Kamm einer wunderschönen Welle“, singt Reincke, ein Lied über das Meer der eigenen Erinnerungen. Reincke spielt die zwölf Lieder seines Albums nur an, die musikalische Vielfalt zwischen eingängigem Pop, Reminiszenzen an Prince, den Reincke so bewundert („Als er starb, hätte die Welt still stehen müssen“) und druckvollen Bläser-Orchestrierungen blitzt sogar im Schnelldurchlauf auf. Später, beim zweiten Hören daheim, offenbart sich auch die Bandbreite der Texte. Reincke mutet seinen Fans radikale Brüche zu. Der Liebes-Hymne „Wenn Du gehst, komme ich mit“ folgt „Noah“, ein bitteres Lied über seinen Vater, einem inzwischen verstorbenen Alkoholiker, der die Familie verließ, als der kleine Michy vier Jahre alt war.
Reincke hat für sein neues Werk einen immensen Aufwand betrieben, neben seiner Band verpflichtete er ein Blechbläserensemble, Streicher um den Violinisten Stefan Pintev, seit Jahrzehnten festes Ensemblemitglied der Hamburger Symphoniker, sowie den in Kanada lebenden Fagottisten Henning Stoll, der im Udo-Jürgens-Film „Der Mann am Fagott“ mitspielte. Möglich war dies nur dank Internet: Reincke schickte via Mail seine am Computer entworfenen Soundideen; die Musiker produzierten in eigenen Studios die Versatzstücke, die Reincke in Andalusien wie ein Puzzle zusammensetzte.
„Sie haben den Falschen“ zeigt exemplarisch, wie wunderbar das Internet Künstler über Kontinente hinweg verbindet. Doch das Netz taugt auch zur veritablen Würgeschlinge, seit Jahren geht der CD-Absatz immer weiter zurück. Bekannte deutsche Musiker verkaufen mitunter nicht einmal mehr 4000 Exemplare eines Albums; Downloads über Plattformen wie iTunes gleichen die Einnahmeverluste in der Regel nicht annähernd aus. Die Musikindustrie setzt zunehmend auf das Streaming, das Hören von Musik im Internet auf Abo-Basis.
Michy Reincke spuckt das Wort Streaming so verächtlich aus wie einen falschen Ton. Er schiebt die Teetasse zur Seite, seine Stimme wird laut, als er vorrechnet, was die französische Gruppe Daft Punk für ihren Hit „Get Lucky“, 2014 meistgestreamter Titel mit 100 Millionen Abrufen, bekommen hat: „13.000 Euro gab es dafür als Honorar, das sind 1,30 Euro für 10.000 Streams. So verscherbeln Konzerne ein Kulturgut wie die Musik.“ Genauso empört sich Reincke über das „Hitdiktat“ vieler Radiosender: „Da wird Leuten für 20 Sekunden ein Titel übers Telefon vorgespielt und dann gefragt, ob sie einschalten würden. Das ist doch absurd.“
Reincke kann sich die Kritik leisten, weil er mit seinem eigenen Label unabhängig geblieben ist. Daher werden ihm auch nie Konzern-Strategen sperrige Albumtitel wie „Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten“ – erschienen 2014 – ausreden können.
Andererseits bedeutet jede neue CD gerade für einen Einzelkämpfer wie ihn einen enormen finanziellen Kraftakt. Wer dann noch wie er kompromisslos auf Qualität setzt, zudem seine Musiker vernünftig bezahlt, muss mit Ausgaben für ein Album im mittleren fünfstelligen Bereich kalkulieren. Trotzdem leistet sich Rintinin weiter ohne öffentliche Subventionen die „Lauschlounge“, eine Veranstaltungsreihe mit Nachwuchskünstlern. Geld, sagt Reincke, hat ihm ohnehin nie viel bedeutet: „Und solange mich diese Haltung nicht an den Rand des Ruins bringt, leiste ich mir sie.“
Entsprechend schlank sind bei Rintintin die Strukturen. Ehefrau Yvonne, die ihren Nachnamen Paulien zu schön fand, um ihn auf dem Traualtar zu opfern, macht die gesamte Promotion und Tourorganisation, ihre Handynummer ist im CD-Booklet praktischerweise abgedruckt.
Denn die Kalkulation kann nur aufgehen, wenn man viele Konzerte gibt – zum Glück liebt Reincke Live-Auftritte mindestens so sehr wie das Einspielen von Alben. Und achtet dann in kleinen Dingen auf den Euro. Neben dem Mischpult steht eine große Kiste mit Mundharmonikas. Reincke verschenkt sie traditionell an jede Konzertbesucherin, die auf der Bühne mit ihm den Hit „Für immer blond“ intoniert. Die Instrumente gab es im Angebot, da hat er zugeschlagen.
Beim Abschied fällt der Blick noch auf das Plakat für das Konzert auf Kampnagel am 21. Mai, wo er das Album erstmals präsentieren wird. Reincke hat sich an einem See bei Ronda im Sonnenuntergang als Westernheld mit Cowboy-Hut fotografieren lassen: „Dieser Clint-Eastwood-Style passt doch zum Albumtitel ,Sie haben den Falschen‘“, sagt er. An der gegenüberlienden Wand hängt ein großes Foto aus den 1980ern, das fünf junge Männer in feinem Zwirn zeigt. Mittendrin Michy Reincke mit seinen Bandkollegen von Felix de Luxe, damals Chartstürmer mit dem „Taxi nach Paris“, seinem bekanntesten Lied, das bei keinem Reincke-Konzert fehlen darf.
Hamburg, Paris, Ronda. Es war ein weiter Weg in den vergangenen 30 Jahren für Michy Reincke. Dem Clint Eastwood aus Barmbek-Süd.
Michy Reincke präsentiert sein neues Album mit Band am 21. Mai, 20 Uhr, auf Kampnagel. Tickets ab 29,80 Euro auch bei www.michyreincke.de