Hamburg. Der 56-jährige Hamburger Liedermacher liefert auf St. Pauli ein dreistündiges Weihnachtskonzert der Extraklasse ab.

freundliche Dame vom Service sollte sich irren. „Die Show endet heute gegen 23 Uhr“, kündigte die Mitarbeiterin vom Schmidts Tivoli an, nachdem sie auf der Bühne im Stil einer Stewardess über das Programm und die Lage der Notausgänge informiert hatte. Um 23 Uhr war Michy Reincke am Dienstagabend bei seinem ersten von zwei ausverkauften Weihnachtskonzerten im Tivoli noch nicht einmal beim Zugabenblock angekommen. Und als er dann ebenso abgekämpft wie glücklich noch Autogramme im Foyer schrieb, zeigte die Uhr bereits fast Mitternacht.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten lädt der Hamburger Liedermacher nun schon zu seinen weihnachtlichen Gastspielen an die Reeperbahn. Das macht es irgendwie leicht, da sein Publikum treu ist – viele sichern sich ja Monate zuvor die Tickets. Und doch schwer, da man so treue Gäste erst recht nicht enttäuschen will. Es ist wie bei einem liebgewonnenen weihnachtlichen Festmahl unter Freunden. Die Gans muss kross sein, der Rotkohl und die Knödel auf den Punkt gegart. Und doch will man ja nicht in Routine erstarren, etwas Neues jedes Jahr darf es dann schon sein.

Auf diesem schmalen Grat zwischen Ritual und Experiment bewegte sich Reincke auch diesmal perfekt. Der Sound ist großartig, seine fulminante Band, ergänzt durch das Bläsertrio „Box Horns“, sorgt für den nötigen Druck auf der Bühne. Reincke lässt keinen seiner Hits aus. Und natürlich darf wie in jedem Jahr eine Dame aus dem Publikum bei „Für immer blond“ ihr Glück an der Mundharmonika versuchen. Reincke streift in den drei Stunden durch sein gesamtes musikalisches Schaffen, „Valerie“ fehlt ebenso wenig wie der Wunderkerzen-Klassiker „Nächte übers Eis“.

Sein Vater war ein schwerer Trinker

Drei gänzlich neue Stücke hat er ebenfalls im Programm, ein erster musikalischer Vorgeschmack auf die neue CD im nächsten Jahr. Zwei könnten gegensätzlicher kaum sein. In „Noah“ beschreibt er wie ein Alkoholiker an seiner Sucht buchstäblich ertrinkt – ein durchaus autobiografischer Song, sein Vater war schwerer Trinker. „Glücklich, glücklich“ dagegen ist ein wunderbares Liebeslied über Küsse, wo sogar das Zahngold schmilzt.

Das Neue, das Überraschende bleibt nicht auf die Auswahl der Lieder beschränkt. Erneut schickte Reincke zwei junge Künstler auf die Bühne. Emma Longard, bereits gefeiert bei der Lausch-Lounge in der St. Katharinenkirche sowie Marvin Brooks, ein ebenso muskelbepackter wie stimmgewaltiger Soulsänger, der am ersten Abend das Vorprogramm gestaltete. Beim Abschlussklassiker „Taxi nach Paris“ durften beide mit auf die Bühne. „Durch dieses Lied sind wir ja schon Stadionrocker geworden“, sagte Reincke am Ende mit leiser Ironie, Clubkonzerte wie im Tivoli gebe er ja nur noch in Ausnahmefällen. Zum Glück…