Hamburg. Zwischen Gefangenen-Oper, Schostakowitsch und Pop: Musikfest Hamburg gab sich über Genre- und Epochengrenzen hinweg programmatisch.

Wenn das Musikfest sich das Thema „Freiheit“ unters Logo schreibt, ist die Weiterreichung des programmatischen Gedankens über Orchestergrenzen hinweg zwingend. Nachdem Generalmusikdirektor Kent Nagano das Programm mit Bachs Matthäus-Passion und den Philharmonikern in den Deichtorhallen am Donnerstag eröffnet hatte, griff NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock einen Tag später dieses Leitmotiv für seinen ersten Musikfest-Termin in der Laeiszhalle auf: Der Passions-Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ begann das Konzert, um von Dallapiccolas Gefangenen-Oper „Il prigioniero“ abgelöst zu werden. Neu ist die Idee nicht, Hengelbrock hatte die Kombination 2003 als Musikdirektor der Wiener Volksoper durchgespielt.

Ein cooles Bescheidwisserpublikum hatte sich eingefunden

Diese Collage aus Spätbarock und klassischer Moderne allein wäre schon starker Tobak genug gewesen, doch Hengelbrock intensivierte die Wirkung der konzertanten Version noch durch einen Spezialeffekt: Aus Lautsprechern irritierte das Pochen eines Herzens, bevor das dunkel pulsierende Motiv im Bass des Orchesters aufgegriffen wurde. Obwohl diese Kostprobe belegte, wie historisch informiert Hengelbrock mit dieser Musik umgehen kann und wie gut die Chöre vom NDR und vom Dänischen Rundfunk, ergänzt vom Knabenchor St. Nikolai, auf diesem Repertoire-Gebiet sind – mehr gab es nicht. Zunächst jedenfalls. Stattdessen folgte und fesselte ein packendes Kurzdrama, das seinen Seltenheitswert in Programmen nicht verdient.

Ein brachiales Einzelschicksal aus der Zeit der spanischen Inquisition wird hier erzählt, kafkaesk grausam, mit einem Gefangenen in einem Teufelskreis aus Verzweiflung und Hoffnung, den der Bariton Michael Nagy auch plastisch charakterisierte. Und als alles vorbei war für den Freiheitsberaubten, setzte Bachs Musik vom Beginn wieder ein, diesmal ohne Gesang, als zeitübergreifender Kommentar, der ohne Worte auskommen konnte. Und dann endete sie nicht, sondern verkümmerte, bis fast niemand mehr spielte und nur noch der dunkle Puls vom Anfang übrig blieb.

Gegen das knirschend Unausweichliche dieses hochkomprimierten Dramas nahm sich das erste Konzert der Reihe „Überlebensmusik“ leichtfüßig aus. Beinahe jedenfalls. Denn der Abend im Kleinen Saal der Laeiszhalle begann am Sonnabend zwar in der Finsternis des menschlichen Erlebens, aber er setzte ihr auch einiges entgegen. Dass der Gehalt des Wortes Freiheit womöglich erst da Kontur gewinnt, wo sie eben fehlt, das umrissen die Worte, die zu Beginn über Lautsprecher eingespielt wurden. Worte, die die Erfahrung von Willkür und Folter nur andeuteten.

Sie stammten von dem jungen Perser Farshad, der vor 14 Monaten Zuflucht in Deutschland gefunden hatte. Das Musikfest Hamburg hat unter dem Motto „Freiheitsstimmen“ 28 Menschen zu Wort kommen lassen; die Aufnahmen sollen im Lauf des Festivals immer wieder gespielt werden. Was für einen Kontrast bildete dazu Erwin Schulhoffs Streichquartett Nr. 1. Entstanden 1924, ließ das Werk nicht ahnen, dass sein Schöpfer Jahre später in einem nationalsozialistischen Lager umkommen würde. Die Musiker des tschechischen Pavel Haas Quartet brachten Geist und Witz dieser motorischen, wilden Musik zum Funkeln.

Einen Klassiker hatten die vier auch im Programm, nämlich das achte Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch, das man wegen der Selbstbezüge und allemal wegen der unzähligen D-Es-C-H-Motive (die Initialen des Komponisten) glaubt, mitsingen zu können. Im Streichquartett „Von den Affenbergen“ aus der Feder des Namensgebers Pavel Haas drehten die Musiker weiter auf. Sie weckten Assoziationen an Nachtklänge eines Debussy, ließen Wagenräder ächzen und Vögel zwitschern, lehnten sich jazzig in die Kurve – und verliehen der Musik jenen volkstümlichen Schwung, den man wohl nur hinkriegt, wenn man mehr als eine böhmische Großmutter hat.

Freiheit, das ist auch die Freiheit der Musik selbst. Und zu der gehört es, an einem Konzertort das zu tun, was der Klang dem Körper sagt. Aufstehen und tanzen zum Beispiel. Das Konzept des Musikfests, an drei „Night­line“-Abenden junges Volk in die Laeisz­halle zu ziehen, ging mit dem Auftritt von Jamie Woon am Sonnabend jedenfalls auf. Ein cooles Bescheidwisserpublikum hatte sich eingefunden. Der angesagte Brite Woon, eingeladen in Kooperation mit dem Uebel & Gefährlich, verwandelte den stuckverzierten Saal mit einem Mix aus R&B, House und Funk, satten Beats, Keyboardmelodien und dunkler Engelsstimme in eine Szene-Location.

Meist mit dreiköpfiger Band und zwei Background-Sängern, mitunter aber auch solo an der Akustikgitarre begeisterte er mit Hits wie „Movement“, „Forgiven“ und „Dedication“, das er seinem Idol Prince widmete. Projektionen huschten dazu über die Saaldecke, was zu hochfrequenter Handyarbeit verführte. So häufig ist das Innere der Laeiszhalle wohl lange nicht abgefilmt worden. Getränke waren im Saal verboten – so wertvoll kann das Gestühl doch gar nicht sein? Ein Fan mit Wasser wurde vom Ordner jedenfalls flugs herausgefischt. Da endet sie dann, die Freiheit.