Hamburg. Im April startet das Hamburger Musikfest mit einer aufwendigen Fassung des Meisterwerks von Johann Sebastian Bach. Karten heiß begehrt.

Eine Wachkoma-Patientin, die nur noch mit ihren Augen auf die Welt reagieren kann und die in Großaufnahme aus ihrem Krankenzimmer über einer Opernbühne mit Glucks „Orfeo et Euridice“ zu sehen ist, in ­erschütternder Großaufnahme, als eine vom Schicksal in sich selbst Gefesselte. Es gab Jubel und Proteste bei den Wiener Festwochen. Ein alter Mann, der hilflos in seinen stinkenden Exkrementen liegt, gepflegt von seinem Sohn, unter einem meterhohen Christus-Gemälde dahinvegetierend. Kritiker in Berlin jubelten nach der Aufführung von „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“, fundamentalistische Katholiken schäumten.

Im letzten Sommer dann das Bilderrätsel „The Metopes of the Parthenon“ für das Theater Basel, der letzten Wirkungsstätte von Hamburgs Staatsopern-Intendant Georges Delnon: In einer Messehalle spielten Schauspieler Verletzte und Sanitäter simulierten Hilfe bis zum tödlichen Ende. Und am Ende kommen nicht erlösende Engel, nur ganz irdische Reinigungskräfte, zum Lachenauf­wischen. Warum, weshalb, wieso? Die großen, die ewigen Menschheits-Fragen, überall, und die Antworten schmerzen immer. „Theater enthüllt die eigene Verletzlichkeit, es ist eine Art dunkler Spiegel.“

Wanderungen auf einem brutalen, hauchdünnen Grat

Der italienische Regisseur Romeo Castellucci, von dem diese These stammt, hat in den vergangenen Jahren wieder und wieder die Grenzen des Machbaren bewegt und feinfühlig brachial die des Erträglichen übertreten. Im April eröffnet seine Verszenung von Bachs Matthäus-Passion, dirigiert von Generalmusikdirektor Kent Nagano, in den Deichtorhallen das diesjährige Internationale Musikfest. Mit dabei: der Tenor Ian Bostridge als Evangelist.

Castellucci produziert Skandale, doch nur wie aus Versehen und mit den besten Absichten, möchte man meinen. Seine Arbeiten, wenn sie gelingen, sind Gratwanderungen auf einem brutalen, hauchdünnen Grat. Er steht auf weltentfremdende Grübler wie Hölderlin („Mit ihm arbeiten ist wie mit Dynamit umgehen“), inspiriert von der Wucht griechischer Tragödien erzählt er Geschichten zeitlos anders. Antiker Aristoteles ist ihm dramatisch näher als flottes Method Acting. Viele unterstellen, diese Überdosis aus Flughöhe und Pathos sei berechnende Absicht, und sicher haben sie damit recht. Castellucci ist ein Grobsensibler, ein Vertheaterer von Stoffen, der seine Nische im Transzendenz-Labyrinth von Oper, Theater und Performance gefunden hat. Wagners Werke, nur am Rande bemerkt, mag er, „weil sie Gift sind“.

Im letzten Herbst eröffnete Castellucci mit Schönbergs „Moses und Aron“ die Amtszeit des neuen Intendanten Stéphane Lissner, mit der Verlagerung der spärlichen Handlung hinter Gaze-Vorhänge und mit weißgekleideten Choristen, die durch Nebelbänke irren. Statt Blut in biblischen Mengen floss schwarze Farbe, das Goldene Kalb war nur noch ein zäher alter Stier.

Karten sind schon jetzt begehrt

Paris könnte eine Vorstudie zu Castelluccis Hamburg-Debüt sein, mit dem das Musikfest von Generalintendant Christoph Lieben-Seutter aufsehenerregend starten will, die Karten sind schon jetzt begehrt. Gezeigt wird das Stück eben nicht in der Staatsoper, wo das Aroma der ­legendären Neumeier-Version tief in den Bühnenboden gesickert ist, sondern in den Deichtorhallen. Ihr Zweitname „Halle für aktuelle Kunst“ war für den Norditaliener eine unwiderstehliche Einladung ins Andere. „Nur weil der Tod existiert, können wir uns lebendig fühlen.“ Eigentlich Kalenderspruch-Kleinkaliber, doch Castelluccis bescheiden freundliches Wesen beim Gespräch mit ihm und Delnon verhindert, dass man in waldorfschulenhaftes Geraune verfällt. Castellucci hat seine Rolle in der Theaterwelt gefunden, in der es oft zu laut und oberflächlich zugeht. Er kümmert sich ums Verdrängen der Qualen und um den Trost, den Nicht-Verdrängen mit sich bringen kann. Er malt seine Visionen ins Rampenlicht, ihn interessiert vor allem „das unsichtbare Bild“.

Für „La Passione“ bedeutet das womöglich: drei oder noch mehr Farben Weiß auf der Bühne, die keine Bühne sein solle. „Eine abstrakte Landschaft der Intimität“ verspricht er, denn er will jede Art von Illustration vermeiden. Das Orchester in Weiß, mittendrin die Sänger. In einem Raumkonzept, das viel Konzentration verlangt beim Miteinander von Publikum und Akteuren. Und auf der Nicht-Bühne Schauspieler, „oder besser: Schatten von Schauspielern“, orakelt Castellucci. Sie würden mit ihren Körpern Gemälde formen, „es ist wie eine Kinoleinwand, die aber auch wie ein Brunnen ist. Sehr tief.“

„Es gibt eine liturgische Schönheit in Bachs Passion“

Für Delnon sei diese Zusammenarbeit ein in Erfüllung gegangener Herzenswunsch. „Was mir an seiner Arbeit gefällt: Man kann nicht einordnen, ob es Schauspiel, Oper oder Theater ist. Er hat eine unglaubliche, auch visuelle Annäherung.“ Und das gerade in den Deichtorhallen, die „auch eine Art Kathedrale der Marktwirtschaft“ seien. Delnon verspricht „Bilder, die aus dem Nichts entstehen und dann auch wieder verschwinden.“ Er fühlt sich an Anselm Kiefer und andere bildende Künstler erinnert, „die meine Sehweise verändern, wo ich nicht mehr weiß, hab’ ich das wirklich so gesehen? Oder es mir vielleicht nur eingebildet?“

Mit dem chronischen Vorwurf, er sei doch der Typ, der auf Pointe komm raus schockieren wolle, kann Castellucci – wenig erstaunlich – gar nichts anfangen. „Das ist ein Stereotyp“, entgegnet er. Die Reaktionen des Publikums würden ihn eh nicht interessieren. „Das ist mir egal. Meine Arbeit besteht auch daraus, Dinge zu enthüllen, die bereits vorhanden sind.“

„Es gibt eine liturgische Schönheit in Bachs Passion“, erklärt Castellucci, und die Musiker produzieren in dieser Vertonung der Leidensgeschichte Jesu „eine Welle aus Gefühl“. „Es ist kein Konzert, nicht nur ein Konzert“, findet er. „Für mich ist schon diese Form bei einem solchen Stück verkehrt. Es ist ein Oratorium, deswegen schlage ich dem Publikum vor, in die Musik einzutauchen.“ Und: „Wir müssen immer in dieser Musik verloren sein.“

Termine: 21./23./24.4. 20.00, Deichtorhallen. Karten (20 bis 132 Euro) unter T. 35 68 68. Infos: www.musikfest-hamburg.de