Hamburg. Das NDR Sinfonieorchester mit starkem Programm auf Kampnagel. Der Abend begann mit hochtouriger Streichervirtuosität.

Spieltrieb ist ein Wort, dass man nicht sofort mit Avantgarde-Komponisten in Verbindung bringen würde. Doch offenbar hat das NDR Sinfonieorchester bei der Wahl seines ersten Residenzkomponisten genau diese Qualität in Anders Hillborg erkannt und würdigen wollen. Nach der Hommage an den rigorosen Altmeister Helmut Lachenmann vor wenigen Wochen setzte man beim Porträt-Konzert für den eine Generation jüngeren Schweden auf Kampnagel die programmatischen Aufwärmübungen für die Elbphilharmonie am Saison-Horizont sehr clever fort. Mit einem zweigeteilten Abend, der mit hochtouriger Streichervirtuosität begann und nach der Pause mit der Klangfarbenpalette eines großbesetzten Apparats experimentierte.

Den Vortritt des ersten Stücks erhielt Hillborgs Kollege und Karrieremotor Esa-Pekka Salonen mit seinem „Stockholm Diary“. Eine faszinierende Etüde, die über weite Strecken so klingt, wie sich unschöner Bluthochdruck anfühlen dürfte, mit giftig funkelnden Harmoniereibungen. Noch intensiver, noch vehementer in seiner Motorik war allerdings Hillborgs Violinkonzert. Carolin Widmann, nun wirklich keine Anfängerin im Umgang mit lebenden Komponisten und ihren Herausforderungen, wurde von ihrem Part auf Trab gehalten, ständig das Tutti im Nacken. Sie durfte die vermeintlich guten Manieren einer klassischen Solistin vergessen und hin und wieder mit viel Spaß drauflosschrubben, so als ob Hillborg ein klassisches Jimi-Hendrix-Solo in seine Partitur adoptiert hätte. Gastdirigent Brad Lubman hielt das Tutti strikt in der Spur, so dass Widmann den nötigen Auslauf nutzen konnte.

Überhaupt, die Kunst des geschickten Ausborgens: Auch beim Verbeugen vor Großen ist Hillborg ausgefuchster Profi. Nachdem Lubman Ligetis frühes Meisterwerk „Lontano“ kredenzt hatte, ein Milchglasperlenspiel aus subtilen Andeutungen und scheinbar ziellosen Zweideutigkeiten im Klangfarbenverlauf, folgte Hillborgs erste Hommage „... lontano in sonno ...“ Gleichermaßen beeindruckend: Hanna Holgerssons vibratoloser Sopran und die Trauer Petrarcas um seine Muse im Text. Denn Hillborg zitierte Ligetis Motive, um daraus eine Meditation über Einsamkeit und Empathie zu schaffen, die diese Sonett-Zeilen aus der Renaissance gegenwärtig klingen lässt. Und auch das Finale, von Hillborg hintersinnig „Exquisite Corpse“ genannt, war keine schöne Neutöner-Leiche, sondern ein raffiniertes Puzzle aus Special Effects und Beweisen, in wie vielen Stilrichtungen er trittsicher ist. Zum dritten Mal Ligetis „Lontano“-Beginn, und wieder eine radikal andere Reaktion darauf. Der nächste „Composer in Residence“ wird es schwer haben, Hillborgs Klasse zu entsprechen.