Hamburg. Ersan Mondtag inszeniert „Schnee“ nach dem Roman von Orhan Pamuk am Thalia Gaußstraße. Heute ist Premiere.

Der 28 Jahre alte Berliner Ersan Mondtag wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen mit seinem eigenen Stück „Tyrannis“ eingeladen, das er in Kassel auf die Bühne gebracht hat. Derzeit inszeniert er am Thalia Gaußstraße Orhan Pamuks „Schnee“. Der Roman spielt in einer türkischen Provinzstadt. Im Zentrum steht die Frage nach der Identität der Türkei zwischen Verwestlichung und Islamismus. Ein Gespräch mit Mondtag über seine Arbeit.

Hamburger Abendblatt: „Schnee“ ist ein vielschichtiger Roman, der unter anderem von den Konflikten zwischen Laizismus und Religion, Ost und West handelt. Was davon erzählen Sie?

Ersan Mondtag: Thematisch geht es um Religion und Atheismus. Weniger um die Türkei, den Islam oder die Situation, die der Held im Roman vorfindet. Im Mittelpunkt steht eine verschworene Gemeinschaft von Menschen, die etwas sucht und zu einer politischen Bewegung wird. Mit ihr stellt man sich Fragen und versucht, sie zu beantworten.

Die Gemeinschaft ist hermetisch abgeschlossen. In Ihren Arbeiten sieht man oft Menschen, die die gleichen Bewegungen oder Geräusche machen. Wodurch definiert sich diese Gemeinschaft?

Mondtag : Auch diese Menschen sind hermetisch abgeschlossen. Mir geht es um Perspektive, die Architektur des Raumes, den Blick auf eine Gemeinschaft. Die Bühne geht in eine diagonale Richtung, die Zuschauer sitzen etwas rechts davon, sodass sie nicht direkt angesprochen werden.

Ist das Choreografie, Performance? Sie haben schon Inszenierungen gezeigt, die ohne Worte auskamen.

Mondtag : Natürlich verzichte ich bei einer Romanadaption nicht auf Sprache. Das wäre seltsam. Aber ich habe versucht, für die Sprache eine erkennbare Form zu finden. Das Ganze ist choreografiert. Es wird auch getanzt, aber es gibt Freiräume. Die Schauspieler können sich aus einem recht breiten Materialrepertoire bedienen. Sie können improvisieren und selbst entscheiden, was sie zeigen wollen. Aber es gibt feste Bilder, die sie abrufen können. Wir haben Grundregeln für den Raum in Kombination mit dem Bühnenbild, der Musik, der Architektur, dem Kostümbild erarbeitet. Alles ist aufeinander abgestimmt. Der Schauspieler ist der zentrale Führer dieses Abends und entscheidet immer wieder neu, in welche Bildwelten er sich begibt.

Zum Stück gehören sieben Schauspieler. Guckt da einer jeweils, was der andere macht, und geht dann darauf ein?

Mondtag : Alle sind permanent auf der Bühne. Es ist weniger ein Beobachten, mehr ein Miteinander. Eigentlich ist es eine kollektive Erzählung. Es ergibt sich wie bei einer Wellenbewegung, bei der Zufälliges aus dem Nichts entsteht. Wir haben zentrale Motive, Themenblöcke aus dem Roman gefiltert.

Welche?

Mondtag : Kurz zusammengefasst geht es um Perspektive. Und um Gemeinschaft, Radikalisierungsprozesse, Zwischenmenschlichkeit, um Turban tragende Frauen, Religion, Atheismus, Säkularismus, staatliche Repression.

Spielen die Schauspieler Figuren oder ist jeder alles?

Mondtag : Es gibt Stimmen von Figuren. Man sollte nicht mit dem Anspruch in diese Aufführung gehen, hier den Roman erzählt zu bekommen. Das ist bei 600 Seiten nicht möglich. Wir haben einen eigenen Abend aus dem Roman gebastelt, der unabhängig funktioniert, den man aber als Begleitabend zum Roman verstehen könnte.

Wie ist die Textvorlage für die Inszenierung entstanden?

Mondtag : Durch intensive Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Mattias Günther. Und die Schauspieler haben Figuren und Themen, für die sie sich interessierten, aus dem Roman gezogen. Sie haben überwiegend ihre Texte selbst zusammengestellt. Die endgültige Fassung steht erst am Premierentag. Wir machen eher eine Romanbegehung als eine Dramatisierung.

Hört sich schwierig an. Sie arbeiten mit Theater, Musik, Performance, Tanz, einem unfertigen Text. Wo fängt Ihre Arbeit als Regisseur an?

Mondtag : Die Regiearbeit entsteht nicht erst auf der Probe, sondern vorher. Ich habe am Anfang meine formale und inhaltliche Vision formuliert. Danach verhält sich die Gruppe und forscht in eine bestimmte Richtung. Man muss flexibel bleiben und sich auf neue Situationen und Einflüsse einlassen. Ich arbeite am Thalia mit Schauspielkünstlern, die bringen natürlich auch etwas Eigenes mit. Ich sortiere als Regisseur im Endeffekt nur noch das ganze Potenzial, das im Raum ist. Wir haben so viel Material. Man entscheidet sich in eine Richtung und Verdichtung und formt alles. In den Entstehungsprozess fließen viele Zitate, Kunst, Musik und Liebe ein. Das sieht und spürt man. Die Zuschauer brauchen allerdings eine entspannte Rezeptionsform.

Ihre Arbeit umfasst Kunst, Tanz, Musik, Theater. Was können Sie am besten?

Mondtag : Massenaufläufe inszenieren. Ich würde gerne für die Olympischen Spiele inszenieren. Ich möchte in Zukunft auch fürs Ballett, die Oper und den Film arbeiten.

Was davon haben Sie gelernt?

Mondtag : Nichts. Alles selbst erarbeitet.

Hat die aktuelle politische Situation Einfluss auf Ihre Arbeit?

Mondtag : Enorm. Immer. Der Abend endet folgerichtig in Ratlosigkeit. Aber die Realität abbilden soll er nicht. Die Zuschauer sollen eine fremde Welt betreten, um sich über die eigene Welt Gedanken machen zu können.

„Schnee“, Premiere 25.2., 20 Uhr (ausverkauft), Thalia Gaußstraße, weitere Vorstellungen ab 3.3. , Karten zu 22,-, erm. 10,- unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de