Hamburg. Die bislang überwiegend glückhaften Lessingtage zeigen zuletzt Einblicke in Chinas Wandel und verhinderte Landflucht aus Belgien.

Man erkennt die Lessingtage auch daran, dass auf einmal an den Türen der Waschräume im Thalia in der Gaußstraße chinesische Schriftzeichen hängen. Damit sich hier nur ja niemand in der Tür irrt. Die erste Woche des Thalia-Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2016“ ist um. Es gab viel Erhebendes zu sehen, gelegentlich auch Schwächelndes, aber das Konzept geht erneut auf.

Schwer vorhersehbar war die Reaktion der Alt- und Neuhamburger auf den Bürgergipfel „Das neue Wir“. Doch 1000 von ihnen kamen, redeten, aßen und tranken, nahmen die Herausforderung an, selbst zu Akteuren zu werden und verhalfen dem Experiment so zu einem Erfolg. Das Theater kann offenbar nicht nur Musentempel sein, sondern auch Vermittler und Integrierer der Stadtgesellschaft.

Produktionen aus fernen Ländern, unbekannte Darsteller, ungewohnte Ästhetiken, all das konnte Besucher nicht schrecken. Viel Community war gekommen, um „Die Masse“ von Nick Yu Rong Jun aus China in der überwiegend ausverkauften Gaußstraße zu erleben. Wie erzählt man von Politik und einer Gesellschaft im Wandel in einem Land, in dem kritische Fragen eher unerwünscht sind? Regisseur Tang Wai Kit gelingt das, indem er stringent mit einfachen, aber effektiven Mitteln die Bewegungen des Kollektivs und ein Individualschicksal verwebt. Zu Beginn verkörpert Chongquing – heute die größte Stadt Chinas – noch die Stroh bedeckte Dorfwelt anno 1967. Der junge Wang Guaquing erfährt vom Erschießungstod seiner Mutter. Ob aus Versehen oder Absicht, ist unklar. Von Rachegedanken getrieben, wird ihm die Jagd nach dem Mörder zur Obsession. Auf der Suche nach Gerechtigkeit heftet er sich an die Fersen des Mördersohnes, eines zwielichtigen Richters mit Doppelleben. Spielszenen, die die Handlung vom Land ins Urbane vorantreiben, wechseln mit surrealen Begegnungen. Intensität gewinnen sie durch das akkurate Spiel der sechs jungen Akteure und durch einen Pianisten, der das Innere des Instruments effektvoll mit Bällen, Schneebesen und Ketten traktiert. Die Masse, das chinesische Wir, kann eben auch irren und sich gegen Menschlichkeit wenden, so die bittere Erkenntnis. Schön ausgeleuchtet endet die Inszenierung im September 2014 im verregneten Hongkong. Regencapes zitieren die Regenschirmrevolution. Eine grandiose, erstaunlich verständliche Theatererfahrung aus einem Land, in dem das öffentliche Nachdenken über Politik keineswegs selbstverständlich ist.

Wasser von oben kommt auch beim gewaltigen Bildertheater des Antwerpener Kollektivs FC Bergman im Thalia Theater zum Einsatz. „300el x 50el x 30 el“ macht den Zuschauer zum filmischen Voyeur des Innenlebens von sechs Dorfhütten inklusive Waldstück. Im Vordergrund raucht und angelt ein Bewohner trist vor sich hin. In den Hütten herrscht der pure Sündenfall. Fressorgien, Tauben malträtierende Kinder, ein Paar, das skurrile Ausflüchte aus seinem sexuellen Notstand sucht, eine entschlummernde Klavierlehrerin, deren Schülerin sich zu ihrem Liebhaber, einem Soldaten, flüchtet. Es gibt religiös aufgeladene Symbolik, ein von der Decke hängendes Lamm, eine Schlange in einer Liebesszene. Der visuelle Aufwand ist beträchtlich, das Erzählte im Vergleich arg schmal. Ein am Ende wenig optimistischer Reigen von in Ritualen verfangenen Existenzen ohne Ausweg. Aber immerhin die tröstliche Erkenntnis: Das „Wir“ zu finden, ist überall gleich schwer.

„Um alles in der Welt – Lessingtage 2016“ bis 7.2., Thalia Theater und Thalia in der Gaußstraße, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de