Hamburg . „Don’t Panic“ – erstmals wird das Festival im Thalia Theater mit einem Gipfel eröffnet. Das Thema: Das neue Wir.

Wir leben in besonderen Zeiten. Das zeigte sich auch bei der Eröffnung des diesjährigen interkulturellen Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2016“ im Thalia Theater. Am Anfang stand am Sonntagvormittag erstmals nicht der Vortrag eines international renommierten Intellektuellen, sondern, so Thalia-Intendant Joachim Lux in seiner Eröffnungsansprache: „In diesem Jahr ist der Starredner Hamburg.“ Die Neugier der Hamburger war offenbar groß, denn der Saal war auch ohne prominenten Redner prall gefüllt. Und als wollte das Theater den Bürgern den Schrecken vor dem Neuen, der Gesellschaft von morgen, die sich finden muss, nehmen, prangte an diesem Morgen „Don’t Panic“ auf dem Eisernen Vorhang.

Thalia-Intendant Lux stellt die Zukunftsfrage

Alteingesessene und neue Hamburger sollten bei diesem Bürgergipfel in moderierten Diskussionsrunden ins Gespräch kommen. „Das Ziel ist, dass wir auf Augenhöhe miteinander reden. Europa droht auseinanderzubrechen. Auf der anderen Seite gibt es ein großes Engagement von vielen, aber die Zeit schreitet ja auch voran. Das reicht nicht“, sagte Joachim Lux. „Wir müssen heraus aus der Rolle des großherzigen Spenders auf die besagte Augenhöhe kommen, wenn wir gemeinsam unsere Zukunft planen wollen, in Europa oder auch in einer Stadt wie Hamburg.“ Alle Fragen sollten ohne Scham und Scheu gestellt werden. Die Hauptfrage, die sich an diesem Morgen stellte: Wie wollen wir in Zukunft leben?

Mark Terkessidis, eloquenter Journalist, Pop-Schreiber und Migrationsforscher, spickte seinen eher an Alltagsbeobachtungen orientierten Kurzvortrag mit zum Teil abschweifenden Anekdoten. Er erinnerte an den Ausspruch der 1990er-Jahre „Das Boot ist voll“, der nicht so recht zu den landverbundenen Einwohnern Deutschlands passen würde. „Wir sind im Ungefähren und Abenteuerlichen unterwegs. Es gibt eine ganze Reihe von neuen ,Wirs‘ auf diesem Boot, mit denen wir uns möglicherweise schwer tun.“

Deutschland hat sich längst verändert

Der Anschlag in Paris sei einer auf eine vermischte Gesellschaft gewesen, sagt er und erinnerte daran, das sich unter den Opfern zahlreiche arabische Namen fänden. Die Täter seien nicht von außen gekommen, sondern aus Paris und Belgien, also aus der Mitte der Gesellschaft. „Was haben wir versäumt, dass wir diesen Kindern so wenig Zugehörigkeit haben organisieren können, dass sie sich dem ,Islamischen Staat‘ anschließen?“, fragte Terkessidis.

Die aktuellen Fluchtbewegungen träfen auf ein Land, das sich längst verändert habe. Bewegung und Vielheit sei seit Langem Normalität, gleichwohl gebe es populistische Haltungen. „Es gibt die Tendenz sich nach einer Gesellschaft zurückzusehnen, die wir noch nie hatten, eine populistische Utopie, die die Gesellschaft eher spaltet.“

Er mahnte an, zu differenzieren, Zugehörigkeit zu bauen und verwies auf Formen der Zusammenarbeit etwa in der Willkommenskultur, die sich aber zum Teil an verkrusteten bürokratischen Strukturen abarbeiteten. Seine Beobachtungen speiste Terkessidis leider überwiegend aus Berliner Beispielen, um für Kollaboration im Sinne einer Zusammenarbeit zu werben. „Wir brauchen statt Identität einen Prozess zur Neuerfindung des ,Wir‘.“

St. Pauli-Pastor Wilm diskutiert über Religion

Derart eingestimmt debattierten die Besucher in nach Farben grob strukturierten Gruppen auf der Bühne, vor den Garderoben und im Mittelrangfoyer. Sieghard Wilm, Pastor auf St. Pauli, zeigte Schilder mit den Begriffen „Glaube“ und „Gewalt“. Die drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam seien ganz dicht beieinander, so Wilm. Gerade ihre Nähe führe aber mitunter zu den größten Streitigkeiten. Eifrig wurde die Frage erörtert, ob wir mehr oder eher weniger Religion brauchen in der Welt.

Am Nachbartisch diskutierte Mariza Suarte, Deutschlehrerin mit kolumbianischen Wurzeln, mit Schülerinnen und Schülern aus Syrien, Bulgarien und Portugal. Zwei wollten Architekten werden, ein hochmotiviertes Mädchen aus Syrien Ärztin. „Es ist sehr schwierig, das aufzubauen“, erzählt Suarte. „Es ist aber auch sehr sehr schön. Die Kinder sind die Zukunft.“

Das neue „Wir“

Je höher man im Theater kam, desto gastlicher wurde es. Auf den Tischen türmte sich mitgebrachtes Essen aus aller Welt. Vielfach ging es noch um Alltags- und vor allem Sprachprobleme, aber die Atmosphäre war offen, zugewandt und warm, die Neugier aufein­ander schien groß bei Jung und Alt. Die Gegner der Idee hatten sich nicht eingefunden. An diesem Vormittag war er zu spüren, der Wille, aktiv und ohne Vorurteile an einem neuen „Wir“ zu bauen.

Um alles in der Welt – Lessingtage 2016 bis 7.2., u.a. mit „Die Schutzbefohlenen“ 27.1., 20.00, Infos und Karten unter T. 040/32 81 44 44; www.thalia-theater.de