Hamburg. Wütende Buhrufe und überschäumende Begeisterung beim Konzert von Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis.
Mit Eiern hat niemand nach der Geigerin geworfen. Neulich erst, in einem NDR-Interview, hatte Patricia Kopatchinskaja, die verrückteste, faszinierendste Brachialumkremplerin neben den ungemein bravnetten Geigenstreberinnen, sich das gewünscht – und dass ihr Publikum wegen ihrer Musik mal so richtig durchdreht. Weil sie es aus den Sitzen reißt, aus der Ruhe bringt, umhaut und wegbläst. Fast so war es dann auch, nachdem der Schlussakkord von Beethovens Violinkonzert als trotzig optimistische Abrechnung, als Ansage des Andersseins ins Dunkel der Laeiszhalle gepfeffert worden war: Die Menschen im rappeldicht verkauften Saal, und nicht nur die vielen viel jüngeren als der Durchschnitt, sind für Hamburger Verhältnisse geradezu ausgerastet.
Die Tutti-Geigen standen, das Holz war hellwach da, von Anfang an
Wütende Buhrufer, weil sie ihren geliebten, altbekannten Beethoven nur noch am Aufdruck der Eintrittskarte erkannt hatten, stand gegen die dagegenhaltende Mehrheit, die sich minutenlang nicht einkriegte vor Begeisterung. Beethoven, die alte Wiener Klassik-Mumie mit dem Hörrohr und der miesen Laune, kann so was. Aber nicht jeder kann ihn auch so spielen, dass man diese Urkraft zwischen den Noten wieder oder neu entdeckt. Neben Kopatchinskaja stand Teodor Currentzis, Vortänzer und Einpeitscher seiner konspirativen Verschwörerband Music Aeterna, selig grinsend. Wir haben es ihnen wieder mal gezeigt, signalisierte das. Geht doch. „Für die, die Buh geschrien haben, habe ich das hier als Zugabe“, legte die Geigerin dann lächelnd nach: etwa eine Minute abstraktes, hinreißendes Gaga-Gebrabbel für Stimme und Geige. Nicht als verbissene Retourkutsche mit Avantgarde-Dünkel, sondern als Jetzt-erst-recht-Signal, bis ihr mitlacht.
In den letzten Monaten hatten die Wilde und das Biest einen Lauf im Rampenlicht aller wichtigen Adressen. Im letzten Jahr, beim Musikfest Bremen, verwandelten die Moldawierin und der Grieche das liebenswürdige Mendelssohn-Konzert von persilweißem Jugend-musiziert-Material in einen garstig brodelnden, streng riechenden Hexenkessel, kurz vor dem Hamburger Gastspiel haben die beiden im Berliner Radialsystem mit einer Hausbespielung abgeräumt, mit Beethovens Fünfter mit Tänzern und DJ und Telemann und Pärt. Und jetzt, schon wieder fast nur Beethoven auf dem Programm. Aber wie, wie anders. Die Pauken und Trompeten vorn rechts am Bühnenrand, weil sie nicht Mit-Spieler, sondern Dialogpartner sein sollen, die Tutti-Geigen standen, das Holz war hellwach da, von Anfang an. Nessun dorma, keiner schlafe.
Currentzis, Marilyn-Manson-Haarschnitt und knallrote Schnürsenkel zu den Stiefeln und sein schwarzes Puffärmchen-Punk-Hemd, das hinten geknöpft wird wie eine Zwangsjacke, gab die Flugrichtung der Einleitung vor. Und dann, endlich, göttlich, menschlich setzte die Geige ein, aber eben nicht, wie man es kennt und gefahrlos mögen könnte. Nicht mit diesem Tonfall, der nach Wettbewerbssiegerin klingt und Bescheidwissen und annesophiemutterigem Klarmachen. Der Einleitungs-Aufschwung der Violine kam demütig durch den Nebeneingang. Currentzis dirigierte nicht, er zauberte eine Stimmung, eine Herausforderung. Für die Gesten und Hüpfer, die dabei anfallen, hätten ihn Zuchtmeister alter Schule wie Karajan und Böhm mit Schnee abreiben lassen; wenn ihm danach war, spazierte Currentzis auch mal hinein ins Orchester, die Lage peilen und am Puls sein. Und neben ihm das kleine Kraftpaket im Virtuosenkleid mit den eingearbeiteten Dampfablasslücken im Stoff? Kopatchinskaja sang vor lauter Vorfreude alles vom Orchesterpart mit, steckte bis zum mächtig pumpenden Herz in der Musik. Das würde selbst ein Tauber hören, weil man es ihr so sehr ansieht.
Currentzis dirigierte großartig, irre, klar. Eine Hirnwäsche vom Feinsten
Die Kadenzen hat sie sich passend unpassend eingerichtet, mit Anspielungen auf die Zeit und den Komponisten, mit wilden Eskapaden und liebevollem Gedankenaustausch mit anderen Solo-Instrumenten. Basisdemokratischer Verzicht auf Virtuosen-Schönheit um ihrer selbst willen. Kopatchinskaja spielte dramatisch uneitel, was jeden der strahlenden Töne noch strahlender machte, auch weil Currentzis ebenso wenig auf Oberflächenpolitur gab wie sie, wenn sie sich durch ihre Einfälle schrubbte wie ein sternhagelvoller Countryfiddler oder mit kleinen Rhythmusdellen vorführte, wie nah Beethovens Wien am Balkan lag. Triller waren kein Taktkitt mehr, sondern Notwendigkeiten. Überall rumpelte und rumorte es in der Struktur des Stücks, in dem großmütigen Publikumsliebling steckt eben auch ein Monster, die beiden ließen es seelenberuhigt von der Kette.
Bei Mozarts „Prager“ Sinfonie nach der Pause scheiterte Currentzis auf hohem Niveau. Obwohl er suchte und stöberte und seine Gang dirigierte, als hätte er einen nassen Mittelfinger tief in die Steckdose gerammt, entzog sich Mozarts weit offenes Geheimnis ihm. Die Tempi waren etwas zu sehr Tempo und zu wenig Hinhören, die Phrasen und Melodiebögen in diesem brutal einfachen Stück wurden nur erzählt, aber nicht befragt. Auch das war für sich genommen interessant, aber nicht genug.
Was schade war, aber nichts machte, weil als Zugabe der Finalsatz von Beethovens Fünfter folgte. Pauken und Trompeten standen dafür genau richtig. Da war er wieder, der Beethoven, der keine Gefangenen nahm im Namen individueller Freiheit. Blendendes, überwältigendes C-Dur. Rückgrat einerseits, andererseits auch Wunden, die offen lagen. Hoffnung auf Großes, Glauben an Wahres. Jahrhundertealte Musik, die retten und Wege ins Jetzt und ins Morgen weisen kann. So dirigierte Currentzis, so großartig, so irre, so klar. Eine Hirnwäsche vom Feinsten.
Kopatchinskaja-Konzerte beim Musikfest: 15.5., 22.00, Kurtágs Kafka-Fragmente mit Anu Komsi, Laeiszhalle, Brahms-Foyer17.5., 20.00, Werke von Ustwolskaja mit Markus Hinterhäuser, St. Katharinen19.5., 20.00 „Bye bye Beethoven“, Kampnagel Infos/Karten: www.musikfest-hamburg.de