Hamburg. Die ebenso streitbare wie exzellente Geigerin Patricia Kopatchinskaja gastiert heute in der Laeiszhalle.
Bei der Geigerin Patricia Kopatchinskaja scheiden sich die Geister. Die einen finden sie phänomenal, die anderen finden, sie spiele unmöglich. Fest steht: Ihre Interpretationen klingen selten so, wie man das Stück zu kennen glaubt. Heute gastiert die Residenzkünstlerin der Elbphilharmonie-Konzerte mit der Camerata Salzburg in Hamburg. Das Gespräch mit ihr fand am Tag nach ihrem Auftritt beim Musikfest Bremen statt, wo sie das Violinkonzert e-Moll von Felix Mendelssohn aufführte.
Hamburger Abendblatt: Sie haben sich gestern derart verausgabt, dass ich dachte: danach braucht sie zwei Tage Erholung.
Patricia Kopatchinsakja: Sie haben recht. Aber ich habe diese zwei Tage nicht. Ich muss heute nach Glasgow, morgen habe ich dort Proben mit dem Scottish Ensemble, dann geht es zum Konzert nach Bukarest. Aber ich schaffe es nicht, umzuschalten. Ich bin immer noch in diesem Mendelssohn von gestern. Je größer der Eindruck war, desto schlechter komme ich da raus.
Sind Sie in Gefahr?
Kopatchinskaja: (lacht) Ja, ich bin in großer Gefahr, schizophren zu werden. Dabei gehört das Umschalten zum Beruf. Wir sind wie Chamäleons, von einem Stück ins andere.
Es gab auch Buhrufe nach Ihrem Mendelssohn gestern...
Kopatchinskaja: (klatscht in die Hände) Wunderbar! Das freut mich! Es muss so unter die Haut gehen, dass es unbequem wird. Sonst macht es keinen Sinn.
Meinen Sie, dass es den Leuten wirklich unbequem wird? Ärgern sie sich nicht einfach nur, dass Sie sie aus ihrer Komfortzone herausholen?
Kopatchinskaja: Es werden alle Komfortzonen verlassen, auch mir wird langsam unbequem. Man kennt dieses Stück so gut, es ist allen bekannt und allen so lieb; mir auch. Aber was hat es für einen Sinn, es immer wieder auf die gleiche Weise zu spielen? Das hat nichts mit Kunst zu tun, das ist nicht einmal eine Karikatur. Die hätte mehr Wert als eine weitere Reproduktion. Es gibt jetzt so chinesische Maler in den Städten, die malen immer dasselbe Bild von van Gogh und verdienen viel Geld damit. Ich will nicht so degenerieren.
Was für eine Beziehung haben Sie zum Mendelssohn-Konzert?
Kopatchinskaja: Ein Stück ist wie ein Kind, das in die Familie kommt: Es hat sich seine Eltern nicht ausgesucht. Auch dieses Violinkonzert-Wesen hat sich den Komponisten nicht ausgesucht. Es ist in dieser Zeit durch seine Hand, durch seine Schrift zu uns gekommen, wie seine Zeichnungen – die sind so akkurat, so klar. So wie Mendelssohn die Anfangsmelodie nicht losgelassen hat, spiele ich das Stück wegen einer einzigen Stelle: dem Zwischenteil zwischen dem zweiten und dem dritten Satz. Die ist für mich das Herz. Man kann sagen, da fragt ein Individuum das Schicksal, oder Gott: „Wieso?“ Darauf kommt eine weit entfernte Stimme zurück, sehr ruhig, und sagt, „Es ist so, es war so, es wird immer so sein“. Und darauf sagt dieses Individuum: „Aber nein, das kann doch nicht sein.“ Ich habe an Jesus gedacht und seine Bitte, „Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen“. Aber nein, es muss sein. Das ist vielleicht sehr weit hergeholt, aber das bedeutet diese Stelle für mich.
Wird man dem Geist der Musik nur mit extremer Interpretation gerecht?
Kopatchinskaja: Ich habe immer wieder an dieser einen Stelle gearbeitet. Im Kopf. Am Klavier. Bis mir mein Mann gesagt hat: Du wirst es nur dann erreichen, wenn die Gegensätze so stark wie möglich sind. Und ich glaube, er hat Recht. Je extremer es ist, desto klarer ist die Aussage. Ob es gefällt oder nicht, ist eine völlig andere Sache. Ich bin nicht da, um zu gefallen, sondern um zu sagen, was ich zu sagen habe. Wir leben ja in einem Absurdum. Wir spielen immer die gleichen Stücke, jeden Tag. Ich bin dafür da, dass sich das ändert. Ich bin ein subversives Element. Immer die gleichen Stücke: Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft irgendwo degeneriert ist. Wenn man einmal eine Phrase anders gespielt hat, sind alle aufgewühlt und rufen: „Steht das in den Noten? Jetzt spielt sie sich mal wieder selbst.“ Hört doch auf! Fangen wir an, neu zu denken! Wir müssen Hunger bekommen auf neue Musik, wir müssen die Ohren spitzen, offen sein und das Neue hören wollen. Wollen!
Wäre es dann nicht konsequent, wenn Sie nur noch neue Musik aufführen würden?
Kopatchinskaja: Das muss man, aber da müssen alle mithelfen. Orchester sollten anfangen, neue Kompositionen von Komponisten zu spielen, die in ihrer Stadt leben. Das sollte ganz normal sein. Und dazu ausnahmsweise mal eine Beethoven-Sinfonie.
Sie treten barfuß auf. Ist das eine archaische Form der Erdung?
Kopatchinskaja: Ich brauche das. Ich kann seit vielen Jahren nicht mehr anders. Man müsste einen Psychiater fragen, was das bedeutet.
Was für ein Sternzeichen sind Sie?
Kopatchinskaja: Widder, Aszendent Krebs. Deswegen die Kontraste in meinem Spiel. Eine ganz normale Melodie ist für mich die höchste Akrobatik. Die Mitte finden ist das Allerschwierigste.
Nimmt das mit den Jahren zu?
Kopatchinskaja: Nein. Aber ich stehe mehr und mehr dazu. Früher war ich damit nicht so klar. Das hat auch damit zu tun, dass ich Mutter geworden bin. Als Frau bin ich jetzt sehr viel sicherer auf den Beinen.
Geerdeter?
Kopatchinskaja: Ja. Ich sage, danke Gott, dass du mich so gemacht hast. Ich muss so sein, wie ich bin. Alles andere ist eine Lüge. Ich könnte nicht so spielen wie ein anderer. Ich muss spielen, wie ich bin, und das ist halt – anders.
Hat Muttersein Ihr Spiel verändert?
Kopatchinskaja: Ja. Die Haltung und das Spiel. Alles kommt von der Haltung. Wenn die Einstellung richtig ist, wird das Spiel sicherer und klarer. Vor allem die Klarheit ist dazu gekommen. Die Aussagen sind wahrscheinlich noch ex-tremer, aber in sich ruhiger. Es stimmt mehr in sich als früher. Da war ich wirklich sehr wild. Ich finde mich nicht mehr so extrem.
Jetzt in Hamburg spielen Sie Prokofjews zweites Violinkonzert.
Kopatchinskaja: Ein gutes Stück. Eines seiner letzten, ehe er nach Russland zurückkam. Es steckt voller Vorahnungen und unheimlicher Farben. Die Uhr tickt immer, sie tickt und tickt bei ihm. Auf mich wirkt seine Musik, als wenn er sich in einer Märchenwelt versteckt. Er will die schreckliche Realität nicht sehen. Seine Frau wurde in ein Arbeitslager gesteckt, nachdem er sich von ihr getrennt hatte. Nicht einfach, mit so etwas zu leben. Seine Musik ist nicht real für mich. Ein Verstecken, ein Sich-nicht-stellen-wollen.
Wofür steht die Uhr?
Kopatchinskaja: Vielleicht für eine Bombe. Es gibt auch wunderbare Melodien, im zweiten Satz eine der schönsten, die je für Geige geschrieben wurden. Ich spiele sie vibratolos, schwerelos, wie etwas, das vom Himmel kommt. Wir dürfen es anrühren, dann müssen wir es wieder loslassen. Darunter aber tickt es.
Ist vibratolos und schwerelos nicht doch so etwas wie die Mitte? Oder ist es nur eine andere Spielart des Extremen?
Kopatchinskaja: Ich weiß nicht, was Mitte ist. Ich hasse es, wenn in der Kunst etwas gemacht wird, was wir nicht spüren, weil es so banal ist. Es gibt davon im Alltag genug. Ich möchte aufmerksam gemacht werden von der Kunst.
Patricia Kopatchinskaja & Camerata Salzburg heute, 19.30, Laeiszhalle, Karten unter T. 35 76 66 66