Hamburg . Sprechwerk und Lichthof gelingen mit „Im Ausnahmezustand“ und „Das Totenschiff“ zwei herausragende Inszenierungen.
„Geht es dir gut?“, fragt die blonde Frau. „Ja, es geht mir gut“, antwortet der Mann, während er mit einer kleinen Schere ein Bäumchen beschneidet. „Geht es dir wirklich gut?“, fragt die Frau wieder. „Ja, es geht mir gut.“ Die Szenerie auf der hellen Bühne, das blumige Kleid der Frau deuten auf ein sommerliches Idyll hin. Wären da nicht die nervigen Fragen. Und die Schüsse. Sie könnten aus der Playstation der Tochter kommen, doch als sie ihren Sessel verlässt, sind die Geräusche immer noch zu hören. Die heile Welt ist eine vorgetäuschte. Es gibt ein Drinnen und ein Draußen, getrennt durch einen Zaun. „Die stehen alle da Schlange morgens schon halb fünf und rütteln an den Toren, die wollen rein, die wollen alle rein ...“
Die Analogie zur gegenwärtigen Flüchtlingssituation liegt auf der Hand
„Im Ausnahmezustand“ heißt das 2007 uraufgeführte Stück von Falk Richter. Den hochaktuellen Text über die zunehmende Paranoia und die Angst vor sozialem Abstieg hat Friederike Barthel in der Reihe „Wortgefechte“ auf die Bühne des Hamburger Sprechwerks gebracht. Nur eine kleine Elite hat es in diesen abgeschirmten Raum innerhalb des Zauns geschafft, draußen tobt ein Bürgerkrieg. Die Analogie zur gegenwärtigen Flüchtlingssituation und zum Versuch, Europa abzuschotten, liegt auf der Hand. Richters Figuren sind von ihren Ängsten zerfressen. Wenn Catherina Fleckenstein als blonde Frau schleifenartig ihrem Mann (Tom Pidde) immer wieder dieselben Fragen stellt, wirkt sie wie eine Beckett-Figur, nahe am Irrsinn und gefangen in ihren gedanklichen Loops.
Das Bild der Wohlstandsenklave erinnert an T.C. Boyles Roman „América“ und Rodigo Plás Film „La Zona“, in denen eine reiche Oberschicht sich vor einer unsicheren und gefährlichen Außenwelt schützen möchte. Doch auch im Innern gibt es Bespitzelungen. Immer lauert die Gefahr, die Siedlung verlassen zu müssen. Regisseurin Barthel hat mit den drei Schauspielern (die Tochter wird von Ines Nieri gespielt) eine fesselnde Inszenierung über die zunehmende Paranoia der Wohlstandsgesellschaft auf die Bühne des kleinen Off-Theaters gebracht.
Auf der anderen Seite des Zauns steht der Seemann Philip Gale. Er ist die Hauptfigur in B. Travens 1926 geschriebenem Seefahrerroman „Das Totenschiff“. Gale hat sein Schiff verpasst und besitzt keine Papiere mehr. Im Hafen von Antwerpen möchte er anheuern, doch er gerät in die Mühlen einer Bürokratie, die ihn von Land zu Land abschiebt. Er wird zum Gespenst ohne Identität, ohne Pass und Seemannskarte hat er aufgehört zu existieren.
Die junge Regisseurin Clara Weyde und der Dramaturg Bastian Lomsché haben sich B. Travens Roman vorgenommen und daraus am Lichthof-Theater, ebenfalls einem Haus der Freien Szene, mit vier Schauspielern einen herausragenden Theaterabend gemacht, der bei zweieinhalb Stunden Länge nicht eine Sekunde langweilt. Mit wenig Mitteln – Bühnenbildnerin Katharina Philipp reichen zwei verschiebbare Schreibtische und zwei Stellagen – zeigt diese junge Theatertruppe im ersten Teil des Abends das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu sein und immer eine Grenze vor sich zu haben – und nach der Pause die Hölle im Heizraum eines heruntergekommenen Schiffs.
Weyde nutzt Elemente des Slapsticks, wenn Gale (David Simon) in der ersten Szene auf zwei vertrottelte Bürohengste (Christoph Jöde und Jannik Nowak) trifft. Sie stellen immer wieder die gleichen Fragen, stürzen sich auf den arglosen Seemann und unterziehen ihn einem peinigenden Verhör. Mit Komik und treffsicheren Pointen erzählt Weyde die alles andere als komischen Versuche Gales, Papiere zu bekommen. Als er in seiner Verzweiflung auf einem Seelenverkäufer anheuert, ist kein Platz mehr für Komik. Die vier starken Schauspieler (auch Amadeus Köhli als US-Konsul) haben als Spielfläche nur die Tische. Dort liegen sie übereinander, schuften, verkriechen sich todmüde in ihren schmalen Kojen. Die Beschreibung ihrer täglichen Arbeit an den glühenden Kesseln gleicht einem Bericht aus der Vorhölle.
Die Lichthof-Regisseurin hat ein perfekt miteinander agierendes Ensemble
Weyde hat B. Travens Roman in die Aktualität hinübergeführt, ihre Inszenierung glänzt mit Ideen, sie hat ein sicheres Gespür für Rhythmus und dramaturgische Effekte und kann sich auf ein perfekt miteinander agierendes Ensemble verlassen. Das Ergebnis dieses Abends ist umso höher zu bewerten, weil Weyde mit wenig Mitteln auskommen musste. Aus der Not macht sie eine Tugend. Mit diesem „Totenschiff“ kann sich die Gewinnerin des Nachwuchswettbewerbs „Start off“ mühelos an einem Staatstheater bewerben.
„Im Ausnahmezustand“ läuft wieder am 5. und 13.2. um 20 Uhr im Sprechwerk (U/S Berliner Tor), Klaus-Groth-Str. 23, Karten 20,50 Euro „Das Totenschiff“ läuft wieder vom 14. bis 17.1. jeweils 20.15 Uhr, sonntags 19 Uhr im Lichthof (Bus M3), Mendelssohnstraße 15, Karten 15,-