Hamburg. Das weihnachtliche Gemälde „Die Ruhe auf der Flucht“ schildert eine dramatische Geschichte – auch wenn man es dem Bild nicht ansieht.

Es wirkt wie eine friedliche Szene, aber diesem Frieden ist nicht zu trauen. Man sieht ein Elternpaar mit einem Säugling in trauter Eintracht vor einer exotischen Landschaft. „Die Ruhe auf der Flucht“, heißt das berühmte Bild, das Philipp Otto Runge in den Jahren 1805 bis 1808 gemalt hat und das sich im Besitz der Hamburger Kunsthalle befindet.

Das Motiv war ursprünglich als Altarbild für die Marienkirche seiner Heimatstadt Greifswald geplant. Es bezieht sich auf das zweite Kapitel des Matthäus-Evangeliums, das gewissermaßen die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte schildert. Schon die Begleitumstände der Geburt Christi, wie Lukas sie darstellt, waren ziemlich problematisch. Da der römische Kaiser Augustus eine Volkszählung angeordnet hatte, mussten sich die Menschen in ihrem jeweiligen Geburtsort regis­trieren lassen. Nur deshalb zog Joseph mit der hochschwangeren Maria nach Bethlehem, wo sich die örtliche Bürokratie infolge des Ansturms offenbar als völlig überfordert erwies. Dort gab es – wie Lukas formuliert – „keinen Raum in der Herberge“.

Kaum sind die drei Weisen abgereist, beginnt die Fluchtgeschichte

Dass sich die Geburt Christi in einer Notunterkunft ereignet, geht weitgehend unter, weil das Motiv in der Kunstgeschichte von Anfang an zur Idylle verklärt wurde. Der Stall mit Ochs und Esel wirkt nicht ärmlich, sondern eher gemütlich und stimmungsvoll. Und schließlich kommt mit den Weisen aus dem Morgenland sogar noch hoher Besuch in das als Familienunterkunft eigentlich völlig ungeeignete Behelfsquartier.

Doch kaum sind die drei Magier, die es in der späteren Überlieferungstradition sogar zu königlicher Würde gebracht haben, wieder verschwunden, entwickelt sich die Angelegenheit im Herrschaftsbereich des Königs Herodes zur lebensgefährlichen Fluchtgeschichte. Bei Matthäus heißt es dazu: „Als sie (die Weisen) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.“ Der Grund dafür ist rein machtpolitischer Art: Herodes, der in Jerusalem als jüdischer König regierte, war über die Nachricht, dass in Bethlehem der künftige König der Juden geboren worden sei, zutiefst beunruhigt, zumal er die eigene Position damit gefährdet sah. Also musste das Neugeborene sterben, bevor er zur Konkurrenz heranwachsen konnte. Und um absolut sicher zu gehen, ordnete er an, vorsichtshalber alle in Bethlehem neugeborenen Knaben umbringen zu lassen.

Dank der rechtzeitigen Warnung machten sich Joseph und Maria mit ihrem Kind nach Ägypten auf. Damit wird die Weihnachtsgeschichte zu einer Fluchtgeschichte, die von Menschen erzählt, die ihr Heimatland Hals über Kopf verlassen müssen, um irgendwo in der Fremde unterzukommen, weil sie nur so überleben können.

In Runges Gemälde ist von den mörderischen Begleitumständen dieser Flucht nichts zu spüren. Mag sein, dass Joseph ein wenig müde und erschöpft ist, aber immerhin hatte er in der Nacht ein Feuer entzündet, das offenbar so viel Wärme spendet, dass das Jesuskind sogar nackt strampeln darf.

In einem Brief an Goethe beschreibt Runge die Szene wie folgt: „Maria und Joseph haben mit dem Kinde am Abhang eines Berges die Nacht ausgeruht, der erste Sonnenstrahl fällt über die Gruppe, und das Kind langt mit der Hand hinein. Im Tal liegt noch der Schatten, und auf den obersten Spitzen spielt das Licht nur. Ein großer Tulpenbaum breitet sich darüber aus, und drei Engel musizieren dem Licht entgegen. Joseph und der Esel sind im Schatten. Er schlägt das Feuer aus, das in der Nacht gebrannt hat.“

Aber wahrscheinlich geht es dem Romantiker Runge auch gar nicht um die Dramatik dieser Fluchtgeschichte. Er nutzt das Motiv, das in der Kunstgeschichte von Dürer über Bruegel und Rubens immer wieder gestaltet wurde, vielmehr für ein Bild, in dem es vor allem um Landschaft und Lichtstimmung geht. Wir sehen allerlei Pflanzen, die der Maler mit großer Virtuosität und viel Liebe fürs Detail dargestellt hat und in der die heilige Familie ganz bei sich zu sein scheint. Und so begegnet uns Runges „Die Ruhe auf der Flucht“ nach Ägypten als ein intimer Moment der Geborgenheit. Dass wir es hier in Wahrheit mit drei Menschen zu tun haben, die auf der lebensgefähr­lichen Flucht vor einem mörderischen Regime sind, erschließt sich nur dem, der den biblischen Text kennt.

Philipp Otto Runges Weihnachtsbild ist in der Ausstellung „Spot On“ zu sehen, die bis zum 17.1. im Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart läuft